Der Knochenleser - Der Gruender der legendaeren Body Farm erzaehlt
eine Woche vergangen; anschließend musste die Leiche für einen normalen Menschen schon ziemlich stark gestunken haben. Nach den Maßstäben eines Hundes hatte sie jedoch gerade erst einen interessanten Geruch angenommen.
Ich habe oft beobachtet, dass Hunde nicht gern auf einer freien Fläche fressen; sie haben Angst, von hinten überrascht zu werden. Am liebsten drücken sie sich mit dem Rücken gegen einen Baumstamm oder einen Felsen, sodass sich kein anderes Tier anschleichen kann. Wenn ein Hund von 20 oder 30 Kilo eine 50 Kilo schwere Leiche an eine Stelle schleppen will, wo er sie ungestört fressen kann, wird er sie nicht bergauf ziehen; er schnappt nach einem Fuß und zerrt sie bergab, sodass die Schwerkraft beim Transport mithilft. Unsere Leiche war dabei allerdings nicht weit gekommen, weil die Beine auf die rechte und linke Seite des Baumstammes gerutscht waren. Als der Köper dort festhing, war der Hund mit seinem Latein am Ende: Er musste sich damit zufrieden geben, den Oberschenkel abzunagen und die Füße wegzutragen.
Die Leiche lag mit dem Gesicht nach oben - wobei das Gesicht allerdings nicht mehr vorhanden war. Auch das weiche Gewebe am Hals fehlte, sodass die Halswirbel frei lagen; Schultern und Arme waren dagegen noch mehr oder weniger unversehrt.
Über das Fehlen des Gesichts wunderte ich mich nicht. Es gehört häufig zu den ersten Dingen, die unkenntlich werden. Schmeißfliegen legen ihre Eier gern an feuchten, dunklen Orten ab; Mund, Nase, Augen und Ohren sind dafür besonders geeignet. Das Gleiche gilt für Geschlechtsorgane und Darmausgang, sofern sie für die Fliegen zugänglich sind. So ungefähr die einzige Stelle, an der ein Schmeißfliegenweibchen seine Eier noch lieber ablegt als in einer Körperöffnung, ist eine blutende Wunde.
Während also damit zu rechnen war, dass das Gesicht fehlte, sah es mit dem Hals ganz anders aus, insbesondere da Schultern und Arme in gutem Zustand waren. Wir hatten es mit einem klassischen Fall von »differenzieller Verwesung« zu tun, und wenn mir so etwas begegnet, sehe ich darin immer ein besonderes Indiz. An der differenziellen Verwesung im Halsbereich konnte ich ablesen, dass dort irgendeine Verletzung stattgefunden hatte. Vielleicht hatte man ihr die Kehle durchgeschnitten - dann hätten die Fliegen sich auf die Wunde gestürzt -, vielleicht hatte der Angreifer sie aber auch erwürgt und mit den Fingernägeln die Haut geritzt, sodass sie blutete. Jedenfalls war der Hals aus irgendeinem Grund für die Schmeißfliegen und Maden genauso anziehend gewesen wie die natürlichen Körperöffnungen am Kopf.
Während ich die Leiche untersuchte, sprach mich Arthur Bohanan an, ein Kriminaltechniker der Polizei von Knoxville, der ebenfalls am Tatort war: »Bill, gib mir mal die Hand.« Ich arbeitete schon seit Jahren mit ihm zusammen und wusste, dass er es ganz wörtlich meinte: Ich sollte der Toten eine Hand abtrennen und ihm geben.
Art war bei der Polizei von Knoxville der führende Experte für Fingerabdrücke. Nach und nach erwarb er sich sogar den Ruf, im ganzen Land einer der besten Fachleute auf diesem Gebiet zu sein, und selbst das FBI fragte ihn gelegentlich um Rat. Er war nicht nur ein Techniker, der an Tatorten die Fingerabdrücke sicherte, sondern er suchte auch mit wissenschaftlichen Methoden nach neuen Verfahren, um Fingerabdrücke auf Oberflächen sichtbar zu machen, auf denen man sie bisher nicht sehen konnte, beispielsweise auf Stoff oder der Haut von Mordopfern. Im Laufe der Jahre hatte Art an zahlreichen Fällen von Kindesentführung und Mord mitgearbeitet, und dabei war ihm aufgefallen, dass die Fingerabdrücke von Kindern viel schneller verblassen als die von Erwachsenen - sie verschwinden beispielsweise aus dem Innenraum der Autos von Entführern. Warum? Das wollte Art herausfinden. Wie er dabei schließlich feststellte, fehlen in den Fingerabdrücken von Kindern vor der Pubertät bestimmte Fettsubstanzen, die den Abdrücken von Erwachsenen eine größere Widerstandsfähigkeit verleihen.
Für einen unbeteiligten Beobachter hätte Arts beiläufige Bitte »Gib mir mal die Hand« grausig geklungen, aber für einen Gerichtsmediziner war sie Routine. In Mordfällen ist es gang und gäbe, dass man Finger oder auch ganze Hände abschneidet und zur weiteren Untersuchung ins eigene Labor oder zum FBI schickt. Kennt man die Identität des Opfers nicht, muss man sich mit allen nur denkbaren Methoden bemühen, Fingerabdrücke zu sichern und den
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