Der Knochenleser - Der Gruender der legendaeren Body Farm erzaehlt
Gewebe verdauen, entsteht durch den chemischen Abbau erstaunlich viel Wärme. Auf der Body Farm ist es an einem kalten Morgen durchaus kein ungewöhnlicher Anblick, dass eine Ansammlung von Maden, die sich der Wärme wegen zusammengedrängt haben, weißen Dampf aufsteigen lässt. Wie mein Kollege Murray Marks festgestellt hat, haben es die Bewohner der Body Farm also da draußen nicht ganz so kalt und einsam, wie man vielleicht glauben könnte.
Um das Opfer Nummer drei zu identifizieren, brachten wir an einem Arm und einem Bein Metalletiketten an. Es war im Jahr 1992 unser 27. gerichtsmedizinischer Fall, die Leiche erhielt also die Nummer 92-27. Um das Alter abzuschätzen, untersuchten wir am Skelett mehrere Einzelheiten: die Schädelnähte, die Schlüsselbeine und das Becken. Die Beckenknochen waren dicht und glatt, eine deutliche Körnung fehlte; wir hatten es also mit einer ausgewachsenen, aber noch relativ jungen Frau zu tun, vermutlich im Alter zwischen 20 und 30 Jahren. Die Schlüsselbeine waren jedoch noch nicht ganz ausgereift: Ihr zum Brustbein weisendes Ende ist der letzte Knochenabschnitt, der vollständig mit dem Schaft verschmilzt; diese Epiphysen - so der Fachausdruck - waren nicht vollständig verknöchert, und das ließ darauf schließen, dass sie noch keine 25 war. Glücklicherweise konnten wir das Alter sogar noch genauer ermitteln. Die wissenschaftlichen Befunde eines meiner früheren Studenten aus Kansas legten die Vermutung nahe, dass es irgendwo zwischen 18 und 23 lag. Und schließlich war die Synchondrosis sphenooccipitalis - die Verbindungsstelle zwischen Hinterhauptsbein und Schädelbasis - nur teilweise geschlossen, auch das ein Hinweis, dass sie noch keine 25 war. Angesichts aller dieser Indizien war ich davon überzeugt, dass das Alter der Toten zwischen 20 und 25 lag.
Um die Körpergröße festzustellen, vermaßen wir den rechten Oberschenkelknochen: Er war 44,4 Zentimeter lang. Diesen Wert setzten wir in eine Formel ein, die in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelt und später von Dr. Richard Jantz, einem Kollegen an der University of Tennessee, verfeinert worden war. Richard, ein weltweit führender Experte für Skelettvermessung, hat eine riesige Datenbank mit derartigen Messwerten zusammengetragen und außerdem eine leistungsfähige Software entwickelt, mit der man aus wenigen einfachen Messungen das Geschlecht, die Rasse und den Körperbau eines Skeletts genau ermitteln kann. Auf diese Weise erfuhren wir, dass sie mit ihrem 44,4 Zentimeter langen Oberschenkelknochen insgesamt ungefähr 1,58 Meter groß gewesen war.
Nun kannten wir Geschlecht, Rasse, Alter und Körpergröße. Als Nächstes mussten wir nach Anhaltspunkten für die Todesursache suchen. Immer wieder untersuchten wir alles Mögliche. Es gab keine Verletzungsspuren - weder Knochenbrüche noch Schnittspuren oder andere Hinweise auf eine Verwundung. Allerdings besaßen wir nicht alle Knochen. Die Füße fehlten, aber die hätten uns vermutlich auch keine Aufschlüsse darüber geliefert, wie sie gestorben war. Noch ein anderer Knochen war nicht vorhanden, und zwar vermutlich der wichtigste des ganzen Körpers. Er gehörte in den Bereich, wo die differenzielle Verwesung schon beim ersten Anblick der Leiche meine besondere Aufmerksamkeit geweckt hatte. Es war das Zungenbein, der einzige Knochen, an dem man mit Sicherheit ablesen kann, ob ein Mensch erwürgt wurde. Dieser kleine, hufeisenförmige Knochen liegt frei über dem Kehlkopf und unter dem Unterkiefer. Man kann ihn spüren, wenn man den Kopf ein wenig in den Nacken legt, vorn nach der Luftröhre greift und die Hand dann hin und her bewegt. Da er so dünn ist und an einer so exponierten Stelle liegt, geht er häufig zu Bruch, wenn jemand erdrosselt wird.
Angesichts der Tatsache, dass die beiden späteren Opfer erwürgt wurden, erschien es mir unabdingbar, dass wir das Zungenbein fanden. Wir untersuchten sehr genau, ob es vielleicht unten in dem Leichensack lag, aber vergeblich. Dann rief ich meine vier Doktoranden zu mir und erklärte: »Ihr müsst noch einmal zur Cahaba Lane fahren und dieses Zungenbein finden.« Sie sahen mich bestürzt und zweifelnd an, aber ich mochte noch nicht aufgeben. Immer wieder war ich verblüfft gewesen, wie viele aufschlussreiche Indizien man am Schauplatz eines Mordes sichern kann, selbst wenn die Tat Monate oder Jahre zurückliegt: Knochen, Geschosse, Zähne, sogar Zehennägel. »Fangt da an, wo wir die Leiche gefunden
Weitere Kostenlose Bücher