Der Knochenleser - Der Gruender der legendaeren Body Farm erzaehlt
Tennessee möglich. Ich freute mich, dass er dort seine Untersuchungen vornahm; wenn die Methode funktionierte - und die Arbeiten zeigten, dass dies zumindest für die ersten fünf Wochen nach dem Tod der Fall war -, konnte sie praktisch überall an Verbrechensschauplätzen von Nutzen sein.
Als man Neal zu den Tatorten an der Cahaba Lane rief, sammelte er sofort lebende Maden von den Leichen ein, um später zu beobachten, wie lange ihre Entwicklung zu ausgewachsenen Fliegen dauerte. Auf diese Weise stellen Insektenforscher fest, wann die Eier abgelegt wurden; es ist, als würde man von der Geburt eines Babys zurückrechnen und auf diese Weise feststellen, wann es gezeugt wurde.
Außerdem legte Neal mehrere große Schweinekadaver in den Wald an der Cahaba Lane; zur Bewachung der Stelle wurden Polizisten abgestellt, die auch in kurzen Abständen die Temperatur maßen. Aus der Zeit, bis die Maden aus den Leichen herangereift waren, und den Beobachtungen an den toten Schweinen berechnete er, dass die Schmeißfliegen irgendwann zwischen dem 9. und 13. Oktober die ersten Eier im Körper der toten Frau abgelegt hatten. Auf diese Weise kamen drei Wissenschaftler mit drei ganz unterschiedlichen Methoden dem tatsächlichen Zeitpunkt des Mordes schon sehr nahe.
Als Letztes schließlich musste ich herausfinden, wer die Tote war. Mit ein wenig Glück konnte ich das vielleicht aus ihrem eigenen Mund erfahren. Die Zähne waren ein Bilderbuchbeispiel für Kontraste. Einerseits war in diesen Mund viel sorgfältige Arbeit investiert worden: 14 Zähne waren mit Amalgam gefüllt. Andererseits jedoch faulte ein anderer Zahn buchstäblich vor sich hin. Die Karies hatte bereits den größten Teil der Zahnkrone zerstört und sich bis in die Wurzelhöhle ausgebreitet, sodass auch der Kieferknochen sich allmählich auflöste.
Solche krassen Unterschiede hatte ich auch früher schon gesehen, und zwar insbesondere bei Frauen. Sie waren fast immer ein Hinweis darauf, dass das Schicksal für die Betroffenen eine dramatische Wendung genommen hatte. Ein Mädchen wächst auf, zieht zu Hause aus und hat es dann schwer, seinen Weg in der Welt zu finden; eine ältere Frau wird entlassen, geschieden oder zur Witwe. Um was für einen Schicksalsschlag es sich auch handeln mag, immer muss sie an allen Ecken sparen, und dann wird Zahnbehandlung schnell zu einem Luxus, den sie sich nicht mehr leisten kann.
Aber auch wenn 92-27 es schwer gehabt hatte, musste es aus der Zeit, bevor es mit ihr den Bach hinunterging, zahnärztliche Röntgenaufnahmen mit ihrem Namen geben. Die konnten wir finden, das wusste ich, aber es würde unter Umständen eine Weile dauern. Glücklicherweise konnten wir uns die Mühe sparen.
Während meine Kollegen und ich uns eingehend mit Zähnen und Knochen, Chemikalien und Insekten beschäftigten, hatte der Fingerabdruckexperte Art Bohanan sich um die Hände gekümmert, die ich am Tatort in seinem Auftrag abgeschnitten hatte. Er konnte Abdrücke gewinnen, aber in den Polizeiakten gab es dazu keine Entsprechung; wenn die Frau also schon einmal festgenommen worden war, dann nicht in Knoxville. Auch unter den polizeilichen Personenbeschreibungen und Profilen von bekannten Prostituierten gab es nichts, das zu ihr passte. Die allgemeine Beschreibung jedoch - farbige Frau, 20 bis 25 Jahre alt, Größe 1,58 Meter - entsprach einer Vermisstenanzeige, welche die Schwester einer Frau kurz zuvor erstattet hatte. Die Vermisste war am 14. Oktober zum letzten Mal gesehen worden; sie hieß Darlene Smith, war farbig, 22 Jahre alt und 1,60 Meter groß - eine auffällige Übereinstimmung mit den Ergebnissen der Skelettuntersuchung.
Aus der Anzeige der Schwester kannte Art die Adresse von Darlene Smith: eine Mietwohnung im Osten von Knoxville, nicht weit von einer Gegend, in der häufig Prostituierte tätig waren. Es war kein besonders angenehmes, aber ein recht billiges Stadtviertel. Die Schwester führte Art in die Wohnung der Vermissten und stöberte dort auch eine Kopie des Mietvertrages auf. Art besprühte das Papier mit Ninhydrin, einer Verbindung, die stark mit den Aminosäuren im Sekret menschlicher Fingerabdrücke reagiert. Im nächsten Augenblick hatte er ein Gewirr violetter Flecken und Fingerabdrücke vor sich.
Wie Art feststellen konnte, stammten die Abdrücke von zwei Paar Händen. Eines davon gehörte einem Mann - und zwar Darlenes Vermieter, dem Art am gleichen Abend die Fingerabdrücke abnahm. Die anderen stimmten mit den Händen
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