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Der Koch

Der Koch

Titel: Der Koch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Suter
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warum bist du zurückgegangen?« Andrea hatte ein Stück Chapati mit Korianderschaum in der Hand und konnte es kaum erwarten, es in den Mund zu schieben. Sie hatte nicht gewusst, wie viel sinnlicher es war, mit der Hand zu essen.
    »2001 gewann die United National Party die Neuwahlen. Alle glaubten an den Frieden, die LTTE rief eine Waffenruhe aus, in Oslo begannen Friedensverhandlungen. Es sah aus, als wäre endlich das Sri Lanka im Entstehen, in das ich zurückwollte. Und ich musste von Anfang an dabei sein.«
    Er tauchte seine Finger in die Fingerschale, trocknete sie mit der Serviette, stellte die Teller zusammen und stand auf, alles in einem einzigen, fließenden Bewegungsablauf, wie es Andrea vorkam.
    Sie sah ihn in der Küche verschwinden. Als er kurz darauf wieder herauskam, trug er vorsichtig eine lange, sehr schmale Platte, in deren Mitte nichts als eine Reihe exakt ausgerichteter glänzender Bälle lag. Sie sahen aus wie kleine alte Billardkugeln aus nachgedunkeltem Elfenbein, waren warm, besaßen eine Konsistenz wie kandierte Früchte und schmeckten süß und scharf nach Butter, Kardamom und Zimt.
    »Und dann?«, fragte Andrea, wie ein Kind bei der Gutenachtgeschichte.
    »Ich fand eine Stelle als Commis in einem Hotel an der Westküste.«
    »Als Commis?«, unterbrach sie ihn. »Ich dachte, du warst beinahe Chef?«
    »Aber auch Tamile. In Kerala spielte das keine große Rolle. Im singhalesischen Teil Sri Lankas schon. Ich arbeitete fast drei Jahre als Commis.«
    Andrea biss bereits in die zweite der polierten Kugeln. »Dabei bist du ein Künstler.«
    »2004 bekam ich meine Chance. Die Hotelkette, bei der ich angestellt war, hatte im Hochland aus einer Teefabrik ein Boutique-Hotel gemacht und mich dort zum Chef de Partie ernannt.«
    »Und weshalb bist du nicht geblieben?« »Der Tsunami.« »Im Hochland?«
    »Er hatte das Hotel an der Küste zerstört, und einer der überlebenden singhalesischen Köche hat meine Stelle bekommen. Ich musste zurück in den Norden. Und dort erlebte ich, wie die LTTE und die Regierung die Hilfslieferungen der ganzen Welt dazu benutzten, ihre Politik zu betreiben. Da wusste ich, dass dies nicht das Sri Lanka war, in das ich hatte zurückkehren wollen.« Er naschte jetzt auch von einer Kugel und legte sie in seinen Teller zurück. »Und noch lange nicht sein würde.«
    »Der Tsunami ist doch gar nicht so lange her.«
    »Etwas über drei Jahre.«
    »Und weshalb sprichst du schon so gut Deutsch?«
    Maravan zuckte mit den Schultern. »Wir haben gelernt, uns anzupassen. Dazu gehört Sprachen lernen.« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Chuchichäschtli.«
    Andrea lachte. »Und warum die Schweiz?«
    »In den Ayurveda Resorts in Kerala und in den Hotels in Sri Lanka gab es viele Schweizer. Die waren immer freundlich.«
    »Hier auch?«
    Maravan überlegte. »Hier werden die Tamilen besser behandelt als in ihrer Heimat. Es gibt hier fast fünfundvierzigtausend von uns. - Tee?«
    »Wenn du meinst.«
    Er räumte das benutzte Geschirr ab.
    »Ist es eigentlich okay, dass ich einfach hier sitze und mich bedienen lasse?«
    »Heute hast du frei«, antwortete er und verschwand in der Küche.
    Nach einer Weile brachte er ein Tablett mit einem Teeservice und schenkte ein. »Weißer Tee. Aus den silbernen Blattspitzen des Tees vom Hochland bei Dimbula«, kommentierte er, ging zurück in die Küche und brachte für jeden einen Teller mit Konfekt. Ein grüngesprenkelter Eislutscher, umgeben von kleinen Spargeln mit giftgrünen Spitzen und herzförmigen dunkelroten Plätzchen.
    »Ich glaube, ich kann nichts mehr essen.«
    »Konfekt kann man immer essen.«
    Er hatte recht. Der Lutscher schmeckte nach Lakritze, Pistazien und Honig, wie eine Jahrmarktsleckerei. Die Spargel aßen sich wie Gummibärchen und schmeckten intensiv nach - Spargel. Die Herzchen waren süß und scharf, dufteten nach einem indischen Markt und schmeckten - es fiel ihr kein besseres Wort ein - frivol.
    Plötzlich wurde sie sich der Stille bewusst, die zwischen ihnen entstanden war. Auch der Wind hatte aufgehört, seine Regenböen auf das Fenster zu treiben. Irgendetwas ließ sie sagen: »Zeigst du mir Fotos von deiner Familie?«
    Ohne ein Wort stand Maravan auf, zog sie auf die Beine und führte sie ins Schlafzimmer zur Wand mit den Fotos.
    »Meine Geschwister und einige ihrer Kinder. Meine Eltern, sie kamen 1983 um, ihr Auto wurde angezündet.«
    »Weshalb?«
    »Weil sie Tamilen waren.«
    Andrea legte die Hand auf seine

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