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Der Koch

Der Koch

Titel: Der Koch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Suter
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regelmäßige Arbeit gehabt hätte, hätte ihm der Liebeskummer vielleicht weniger zu schaffen gemacht. Dann hätte er die Tage nicht in seiner Wohnung zu verdösen brauchen, fremd und allein.
    Es war nicht nur die Liebesbeziehung, der er nachtrauerte. Es war das erste Mal gewesen, dass er überhaupt eine persönliche Beziehung zu jemandem aus diesem Land hatte. Er pflegte keine Freundschaften, weder zu Schweizern noch zu Tamilen. Jetzt merkte er, dass ihm das fehlte.
    In dieser Stimmung saß er in den Kissen, in denen er an jenem Abend mit Andrea gesessen hatte, und trank Tee. Die Luft mild, fast sommerlich, das Fenster offen, von draußen Sommergeräusche, Musik, das Geschrei spielender Kinder, das Gelächter der Halbwüchsigen vor den Hauseingängen und Hundegebell.
    Da klingelte es. Andrea stand vor der Tür.
     
    Es hatte sie viel Überwindung gekostet. Zuerst war sie sich sicher gewesen, dass sie ihn nie, nie mehr sehen wollte. Was in jener Nacht vorgefallen war, hatte sie in ihren Grundfesten erschüttert. Wie hatte das nur geschehen können, hatte sie sich immer wieder gefragt.
    Dass Maravan am gleichen Morgen noch entlassen worden war, hatte es ihr leichtgemacht, ihm aus dem Weg zu gehen. Dass sie - davon war sie überzeugt - der wahre Grund für seine Kündigung war, tat ihr natürlich leid. Aber sie fand, mit ihrem Akt der Solidarität habe sie ihren Beitrag zur Wiedergutmachung geleistet. Immerhin hatte ihr Auftritt ebenfalls in einer fristlosen Kündigung gegipfelt.
    Aber die Frage, wie es in jener Nacht so weit hatte kommen können, hatte sie nicht mehr losgelassen. Die Antwort, die ihr am angenehmsten war, lautete, dass es etwas mit dem Essen zu tun haben musste. Das war zwar eher unwahrscheinlich, aber es wäre eine Erklärung, die sie nicht zwingen würde, ihr ganzes Lebenskonzept neu zu überdenken.
    Denn je öfter sie im Geist den Abend Wiederaufleben ließ, je detaillierter sie ihre Gefühle und Empfindungen rekonstruierte, desto sicherer war sie, dass sie unter dem Einfluss von etwas gestanden haben musste.
    Allerdings: Sie hatte alles sehr bewusst erlebt. Sie war nicht halb betäubt oder wehrlos gewesen. Im Gegenteil, sie hatte die Führung übernommen, er war ihr gefolgt, bereitwillig zwar, aber gefolgt. Es waren ein Abend und eine Nacht gewesen, die alle ihre Sinne so intensiv beansprucht hatten wie noch nie. Sie gestand es sich nicht gerne ein, aber wenn es von etwas ausgelöst worden war, das außerhalb ihrer Kontrolle lag, dann wäre alles ein bisschen weniger kompliziert.
    So hatte sie sich an diesem unerwartet schönen Maiabend doch auf den Weg zu ihm gemacht. Sie würde unangemeldet auftauchen, damit er kein Aufhebens machen konnte. Sie wollte den Besuch so sachlich und kurz wie möglich halten. Kam dazu, dass sie sich so die kleine Möglichkeit offenließ, die Begegnung doch noch zu vermeiden. Falls er nicht zu Hause war, hatte das Schicksal entschieden.
    Die Zeitung, mit der sie sich wie meistens bei Tramfahrten abschirmte, berichtete über eine geheime Aktenvernichtung, die die Regierung auf Druck der USA veranlasst hatte. Es waren Pläne für Gaszentrifugen, die für den Bau von Atombomben gebraucht werden könnten. Sie waren bei einem aufsehenerregenden Fall von Atomschmuggel sichergestellt worden.
    Andrea las die Geschichte ohne besonderes Interesse und sah immer wieder durch die von stümperhaften Glasgraffiti zerkratzte Scheibe auf die nicht sehr belebte Straße. Der Stoßverkehr war vorbei, der Ausgehverkehr hatte noch nicht begonnen. Auch das Tram war halb leer. Ihr schräg gegenüber hatte sich eine übergewichtige Halbwüchsige gesetzt, die geduldig das Kopfhörerkabel ihres iPods entwirrte.
    Vor der Theodorstraße 94 stand eine Gruppe junger Tamilinnen zweiter Generation. Sie lachten und schwatzten in breitem Dialekt. Als sie sahen, dass Andrea auf sie zukam, sprachen sie etwas leiser und wechselten die Sprache. Sie machten ihr Platz und grüßten artig. Sobald sie im Treppenflur verschwunden war, hörte Andrea sie wieder auf Schweizerdeutsch plaudern.
    Im Haus roch es nach gedünsteten Zwiebeln und Gewürzen. Auf dem ersten Treppenabsatz blieb sie unentschlossen stehen und überlegte sich, ob sie umkehren sollte. Die Tür zu einer Wohnung ging auf, und eine Frau im Sari spähte hinaus. Sie nickte Andrea zu, Andrea nickte zurück und war gezwungen weiterzugehen. Auch eine Schicksalsentscheidung.
    Vor Maravans Tür blieb sie einen Moment stehen, bevor sie auf den Knopf

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