Der Koenig aller Krankheiten - Krebs, eine Biografie
worden.
Auf die Krebsmedizin hatte das differenzierte Verständnis von Krebs, dessen Notwendigkeit diese Studien nun eindrücklich demonstrierten, eine ernüchternde Wirkung. 1985 sagte Frank Rauscher, damals Direktor des NCI: »Vor zehn Jahren waren wir alle viel naiver. 9 Wir hatten die Hoffnung, mit der Verabreichung eines einzelnen Medikaments eine dramatische Besserung zu erreichen. Inzwischen wissen wir, dass es viel komplizierter ist. Wir sind weiter optimistisch, aber wir rechnen nicht mit leichten Siegen. Heute wären wir schon froh, wenn wir nur mal ein paar Punkte machen könnten.«
Aber die metaphorische Macht der Vorstellung, man könne den Krebs als solchen (»eine Ursache, eine Heilung«) bekämpfen und ausmerzen, hatte die Onkologie nach wie vor fest im Griff. Die adjuvante Chemo- und die Hormontherapie waren wie vorübergehende Feuerpausen im Kampf – und lediglich Zeichen dafür, dass ein aggressiverer Angriff notwendig war. Die verlockende Idee, ein ganzes Arsenal zytotoxischer Substanzen aufzufahren und den Körper bis an den Rand des Todes zu bringen, um ihn von seiner malignen Fracht zu befreien, war noch immer unwiderstehlich. Deshalb stürmte die Krebsmedizin weiter voran, auch wenn dies Verzicht auf Gesundheit, Sicherheit, Würde bedeutete. Strotzend vor Selbstvertrauen und Dünkel und wie hypnotisiert von der Allmacht der Medizin, drängten die Onkologen ihre Patienten – und ihre Disziplin – an den Rand der Katastrophe. »Wir werden schon im ersten Akt die Atmosphäre derart vergiften«, 10 sagte der Biologe James Watson in Bezug auf die Zukunft der Krebsmedizin, »dass kein anständiger Mensch das Stück bis zum Ende sehen will.«
Viele Krebspatienten, die in den ersten Akt geraten waren, hatten praktisch keine andere Wahl, als das giftige Drama bis zum Schluss durchzustehen.
» Mehr ist mehr «, sagte die Tochter einer Patientin kurz angebunden. (Ich hatte sie behutsam darauf hingewiesen, dass bei manchen Krebspatienten weniger mehr sein könnte.) Die Patientin war eine ältere Italienerin mit Leberkrebs, der seine Metastasen in den gesamten Unterleib gestreut hatte. Sie war ins Massachusetts General Hospital gekommen, um eine Chemotherapie, eine Operation oder eine Bestrahlung zu bekommen – möglichst alle drei. Sie sprach ein stockendes Englisch mit starkem Akzent und musste oft innehalten, um wieder zu Atem zu kommen. Ihre Haut hatte eine grau-gelbliche Färbung – die sich, wie ich fürchtete, zu einer ausgewachsenen Gelbsucht entwickeln würde, sobald der Krebs die Gallengänge endgültig verschlossen hatte und die Gallenpigmente sich im Blut stauten. Vor Erschöpfung schlief sie während der Untersuchung immer wieder ein. Ich bat sie, die Handflächen hochzuhalten, weil ich sehen wollte, ob sich diese kaum merklich flatternde Bewegung zeigte, die häufig ein Leberversagen ankündigt. Zum Glück war kein Tremor feststellbar, doch der Unterleib gab das dumpfe, volle Geräusch einer Flüssigkeitsansammlung von sich, die sicher voller maligner Zellen war.
Die Tochter war Ärztin, und sie beobachtete mich mit Adleraugen, während ich die Untersuchung durchführte. Sie war ihrer Mutter mit dem umgekehrten – und doppelt heftigen – Beschützerinstinkt ergeben, der oft den Zeitpunkt in der Mitte des Lebens kennzeichnet, wenn Mutter und Tochter die Rollen tauschen. Die Tochter wollte die bestmögliche Versorgung ihrer Mutter – die besten Ärzte, das beste Zimmer mit der besten Aussicht auf Beacon Hill und die beste, stärkste, härteste Medizin, die für Geld und Privilegiertheit zu bekommen war.
Die Mutter indessen vertrug kaum noch das mildeste Arzneimittel. Noch war kein Leberversagen eingetreten, aber es war damit zu rechnen, und etliche Anzeichen deuteten darauf hin, dass die Nieren kaum noch arbeiteten. Statt eines harten Medikationsplans, der auf Heilung abzielte, wo Heilung nicht mehr möglich war, schlug ich ein Palliativum vor, vielleicht einen einzelnen chemotherapeutischen Wirkstoff, der einfach ihre Symptome linderte.
Die Tochter sah mich an, als hätte ich den Verstand verloren. »Ich bin hier, um eine Therapie zu bekommen, keine Hospizmaßnahmen«, sagte sie schließlich, bebend vor Zorn.
Ich versprach ihr, mich mit Kollegen zu beraten, die über längere Erfahrung verfügten. Vielleicht war meine Vorsicht voreilig. Doch wenige Wochen später erfuhr ich, dass die Tochter einen anderen Arzt für ihre Mutter gefunden hatte, vermutlich jemanden, der ihre
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