Der Koenig aller Krankheiten - Krebs, eine Biografie
studieren will, und stelle fest, dass es mich zur Leukämie hinzieht. Vielleicht entscheide ich mich fürs Labor, doch der Gegenstand meiner Forschung ist vom Patienten bestimmt: Carlas Erkrankung hat in meinem Leben einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen.
Nichtsdestoweniger gibt es in dieser Endphase meines vollständigen Eintauchens im Krankenhausleben aufwühlende Momente, die mir wieder vor Augen führen, wie sehr mich die klinische Medizin überraschen und fesseln kann. An einem Abend sitzen wir angehenden Fachärzte noch spät in unserem Raum, bis auf das metallische Klappern von Besteck, das für das Abendessen heraufgebracht wird, ist im Krankenhaus alles still geworden. Draußen hängt Regen in der Luft. Wir sieben, inzwischen enge Freunde, stellen Patientenlisten zusammen, die wir an die nächste Gruppe der auszubildenden Onkologen weitergeben wollen. Lauren beginnt auf einmal ihre Liste laut vorzulesen, sie nennt die Namen derer, die während der zwei Jahre in ihrer Obhut gestorben sind, und fügt aus einer plötzlichen Eingebung heraus jedem Namen einen Satz hinzu, wie ein Epitaph.
Es ist eine Art improvisierter Gedenkgottesdienst, und die Atmosphäre im Raum hat sich verändert. Ich falle mit ein, nenne die Namen meiner Patienten, die gestorben sind, und sage noch ein paar erinnernde Worte über sie.
Kenneth Armor, zweiundsechzig, ein Internist mit Magenkrebs. In seinen letzten Tagen hatte er nur noch den Wunsch, einen kleinen Urlaub mit seiner Frau zu verbringen und Zeit zu haben, um mit seinen Katzen zu spielen.
Oscar Fisher, achtunddreißig, hatte ein kleinzelliges Lungenkarzinom. Er war von Geburt an geistig behindert und der Liebling seiner Mutter. Als er starb, wand sie ihm einen Rosenkranz zwischen die Finger.
An diesem Abend bleibe ich noch lange allein zurück, sitze über meiner Liste und erinnere mich bis weit in die Nacht hinein an Namen und Gesichter. Wie kann man einem Patienten ein Denkmal setzen? Diese Menschen waren meine Freunde, meine Gesprächspartner, meine Lehrer – eine Ersatzfamilie. Die Ohren heiß vor Ergriffenheit, Tränen in den Augen, stehe ich vom Schreibtisch auf. Ich sehe mich im dunklen Zimmer um, betrachte die leeren Schreibtische und denke darüber nach, wie sehr uns diese letzten zwei Jahre verändert haben. Eric, selbstbewusst, ehrgeizig, weltgewandt, ist bescheidener und nachdenklicher geworden. Edwin, der im ersten Monat geradezu unheimlich fröhlich und optimistisch war, spricht heute offen von Resignation und Trauer. Rick, von seiner Ausbildung her organischer Chemiker, ist von der klinischen Medizin inzwischen so gefesselt, dass er sich nicht vorstellen kann, ins Labor zurückzukehren. Lauren, zurückhaltend und sehr reif, hellt ihre scharfen Beurteilungen mit Scherzen über die Onkologie auf. Unsere Begegnung mit dem Krebs hat uns abgerundet; sie hat uns geschliffen und poliert wie Flusskiesel.
Ein paar Tage später treffe ich Carla im Infusionsraum. Sie plaudert zwanglos mit den Pflegern wie mit alten Freunden, die man lang nicht gesehen hat. Aus der Ferne ist sie kaum wiederzuerkennen. Die Leichenblässe, an die ich mich von ihrem ersten Tag im Krankenhaus erinnere, hat sich um mehrere Stufen Rot erwärmt. Die von den wiederholten Infusionen herrührenden blauen Flecken an ihren Armen sind verschwunden. Ihre Kinder sind in den Alltag zurückgekehrt, ihr Mann hat seine Arbeit wieder aufgenommen, die Mutter ist zu Hause in Florida. Carlas Leben ist fast wieder normal. Sie erzählt, dass ihre Tochter nachts manchmal weinend aus einem Albtraum aufschreckt. Als ich frage, ob das eine traumatische Erinnerung an Carlas Kampf mit dem Krebs sei, schüttelt sie bestimmt den Kopf: »Nein. Nur Monster im Dunkeln.«
Etwas mehr als ein Jahr ist seit ihrer Diagnose vergangen. Sie nimmt nach wie vor 6-Mercaptopurin und Methotrexat in Tablettenform – Burchenals Mittel und Farbers Mittel; die Kombination der beiden soll das Wachstum etwa noch vorhandener Krebszellen verhindern. Wenn sie an den Tiefstpunkt ihrer Krankheit zurückdenkt, schüttelt sie sich vor Abscheu. Aber etwas in ihr heilt und normalisiert sich wieder. Ihre eigenen Monster sind im Verschwinden begriffen, wie die blauen Flecken.
Als das Ergebnis der Blutuntersuchung aus dem Labor zurückkommt, sind die Werte völlig normal. Die Remission hält an. Ich bin verblüfft und begeistert, aber ich eröffne ihr die Nachricht so behutsam, so neutral, wie ich kann. Wie alle Patienten nimmt Carla jeden Anflug
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