Der Koenig aller Krankheiten - Krebs, eine Biografie
Forderungen bereitwilliger erfüllte. Ich weiß nicht, ob die Mutter an ihrem Krebs oder an ihrer Therapie gestorben ist.
In den achtziger Jahren meldete sich in der Onkologie eine dritte kritische Stimme zu Wort, die schon seit Jahrhunderten an der Peripherie des Krebses immer wieder um Gehör gebeten hatte. Nachdem es Chemotherapie und Chirurgie in einer endlosen Reihe von Studien nicht gelungen war, die Sterblichkeit bei fortgeschrittenem Krebs zu reduzieren, begann eine Generation von Chirurgen und Chemotherapeuten, weil sie ihre Patienten nicht heilen konnten, die Kunst der Pflege zu erlernen – oder vielmehr wiederzuerlernen.
Es war eine unbehagliche Lektion, und sie ging nicht reibungslos. Die palliative Versorgung, jener Zweig der Medizin, der sich auf die Linderung der Symptome konzentriert, war immer als die Antimaterie der Krebstherapie wahrgenommen worden, als ihr negatives Gegenstück, ein Eingeständnis des Scheiterns vor der Rhetorik des Erfolgs. Das Wort palliativ leitet sich vom lateinischen palliare her, das »ummanteln« bedeutet – und Schmerzlinderung wurde als Ummantelung von Krankheit an sich empfunden, als Unterdrückung von Symptomen statt Heilung. In den fünfziger Jahren stellte ein Bostoner Chirurg im Zusammenhang mit Schmerzlinderung folgende Überlegung an: »Wenn anhaltende Schmerzen bestehen, 11 die nicht mit einem direkten chirurgischen Angriff gegen die pathologische Schädigung oder Störung behoben werden können, lässt sich Linderung nur durch chirurgische Unterbrechung der Nervenbahnen erzielen.« Die einzige Alternative zur Chirurgie sei also weitere Chirurgie – Feuer wird mit Feuer bekämpft. Schmerzlindernde Opioide wie Morphin oder Fentanyl wurden bewusst abgelehnt. »Wird der chirurgische Eingriff verwehrt«, fuhr der Autor fort, »so ist der Leidende zu Opiatabhängigkeit, körperlichem Verfall und sogar Selbstmord verurteilt« – was umso mehr eine Ironie ist, wenn man bedenkt, dass Halsted selbst, als er seine Theorie von der radikalen Mastektomie entwickelte, in eine Doppelabhängigkeit von Kokain und Morphium verstrickt war.
Die Bewegung, die das Ziel hatte, Krebspatienten ein würdiges, schmerzfreies Lebensende zu ermöglichen, entstand, wie nicht anders zu erwarten, nicht im heilungsbesessenen Amerika, sondern in Europa, in England. Ihre Begründerin war Cicely Mary Saunders, ursprünglich eine Krankenschwester, die später Medizin studiert hatte und Ärztin geworden war. Ende der vierziger Jahre hatte sie in London einen krebskranken jüdischen Flüchtling aus Warschau betreut, der im Sterben lag. Der Mann hinterließ ihr die Ersparnisse seines Lebens, fünfhundert Pfund, mit dem Wunsch, »ein Fenster in [ihrem] Haus« 12 zu sein. Als Saunders in den fünfziger Jahren die trostlosen Krebsstationen im Londoner East End besuchte, ging ihr der Sinn dieser kryptischen Bitte auf: Sie traf dort sterbenskranke Patienten, denen Würde, Schmerzlinderung und häufig auch die medizinische Grundversorgung versagt war und die ihr Leben in buchstäblich fensterlosen Räumen zubrachten. Diese »hoffnungslosen« Fälle, musste Saunders feststellen, waren die Ausgestoßenen der Onkologie, für sie war in der Rhetorik von Kampf und Sieg kein Platz vorgesehen, und wie verwundete, nutzlos gewordene Soldaten wurden sie verdrängt – aus den Augen, aus dem Sinn.
Saunders rief daraufhin eine Gegendisziplin ins Leben, ließ sie vielmehr wiederauferstehen: die Palliativmedizin. (Die Formulierung palliative care , palliative Betreuung oder Pflege, vermied sie absichtlich, weil care , schrieb sie, »ein weiches Wort« 13 sei, das in der Medizin niemals Anerkennung fände.) Nachdem die Onkologen sich nicht überwinden konnten, ihre unheilbaren Patienten angemessen zu betreuen, wollte sie andere Spezialisten mobilisieren – Psychiater, Anästhesiologen, Geriater, Physiotherapeuten und Neurologen –, damit sie den Patienten einen würdigen, schmerzfreien Tod ermöglichten. Und sie wollte die Sterbenden aus den Krebsstationen holen: 1967 eröffnete sie in London ein Hospiz für unheilbar Kranke und Sterbende, St. Christopher’s Hospice, das sie sinnfällig nach dem Schutzpatron der Reisenden benannte, dem hl. Christophorus.
Er dauerte ganze zehn Jahre, bis Saunders’ Hospizbewegung nach Amerika gelangte und in die optimismusgefestigten Onkologiestationen vordrang. »Der Widerstand gegen die palliative Betreuung von Patienten«, 14 erinnert sich eine Klinikschwester, »war so
Weitere Kostenlose Bücher