Der Koenig aller Krankheiten - Krebs, eine Biografie
neue Krebsmedikamente getestet werden, haben die Tendenz, sich unaufhaltsam zu immer kränkeren Patienten hin zu verschieben (wenn bekannt wird, dass ein neues Medikament testreif ist, melden sich immer mehr verzweifelte Patienten zur Teilnahme, weil sie sich davon einen allerletzten Versuch erhoffen). Cole aber zog es in die entgegengesetzte Richtung: Sie fragte sich, wie Tamoxifen wohl bei Frauen mit Brustkrebs in früheren Stadien wirkte. Wenn ein Medikament das Voranschreiten weit gestreuter und aggressiver Karzinome im Stadium IV stoppen konnte, war die Wirkung bei enger eingegrenzten Mammakarzinomen in Stadium II, wenn der Krebs vorerst nur auf die regionalen Lymphknoten übergegriffen hat, vielleicht noch besser?
Cole hatte, ohne es zu wissen, Halsteds Überlegungen nachvollzogen. Halsted hatte die radikale Mastektomie von der Prämisse aus entwickelt, dass er Brustkrebs im Frühstadium umfassend und definitiv angehen müsse, indem er jedes denkbare Reservoir der Erkrankung chirurgisch »säuberte«, auch wenn keine Spur von Krebs zu sehen war. Am Ende war das Ergebnis die groteske, entstellende Operation, die selbst Frauen mit kleinen, lokal begrenzten Tumoren aufgezwungen wurde, um Rückfällen und Metastasierung in fernliegende Organe vorzubeugen. War Halsted durchaus nach dem richtigen Prinzip vorgegangen, wenn er die Augiasställe des Krebses auszumisten versuchte, und hatte nur die falschen Mittel dazu benutzt? Unsichtbare Krebsreservoire waren chirurgisch nicht zu beseitigen. Aber vielleicht gelang es mit einem starken chemischen Wirkstoff – einer systemischen Therapie, der »Nachbehandlung«, von der Willy Meyer schon 1932 geträumt hatte.
Von einer Variante dieser Idee war, noch bevor Tamoxifen am Horizont aufgetaucht war, eine Gruppe von Renegaten am NCI gepackt worden. 1963, fast zehn Jahre bevor Moya Cole in Manchester ihre Experimente abschloss, hatte Paul Carbone, dreiunddreißigjähriger Onkologe am NCI, 3 eine klinische Studie begonnen, mit der er feststellen wollte, ob bei Patientinnen, denen ein Primärtumor im Frühstadium operativ entfernt worden war – das heißt, wenn kein sichtbarer Tumor im Körper mehr verblieb –, eine Chemotherapie wirksam wäre. Carbone hatte sich vom Schutzheiligen der Renegaten am NCI inspirieren lassen, von Min Chiu Li, dem Forscher, dem gekündigt worden war, weil er Patientinnen mit einem Chorionkarzinom noch lange nach der vollständigen Rückbildung des sichtbaren Tumors mit Methotrexat behandelt hatte.
Li war in Schande entlassen worden, aber die Strategie, die ihm den Hals gebrochen hatte – die »Säuberung« des Körpers von Tumorresten durch Chemotherapie –, hatte in der Zwischenzeit am Institut viel Ansehen gewonnen. Bei seiner kleinen Studie stellte Carbone fest, dass eine zusätzliche Chemotherapie nach der Operation die Rezidivrate bei Brustkrebs verringert. Diese Form der Behandlung nannten Carbone und seine Mitarbeiter adjuvant (von lat. adiuvare , »unterstützen«). Die adjuvante Chemotherapie, vermutete Carbone, könnte die kleine Helferin des Chirurgen sein. Sie könnte mikroskopische maligne Ableger, die nach der Operation noch im Körper verblieben waren, ausmerzen und auf diese Weise eventuelle Rückzugsorte maligner Zellen eines Mammakarzinoms im Frühstadium beseitigen – im Wesentlichen also die Herkulesarbeit des Ausmistens besorgen, die Halsted sich vorgenommen hatte.
Allerdings waren die Chirurgen nicht an Hilfe interessiert – und schon gar nicht, wenn sie von Chemotherapeuten kam. Um die Mitte der sechziger Jahre, als die radikale Operation zunehmend unter Beschuss geraten war, betrachteten die meisten Brustkrebschirurgen die Chemotherapeuten als feindlich gesinnte Rivalen, denen nicht zu trauen war, vor allem dann nicht, wenn sie ihre Kooperation anboten, um das Ergebnis einer Operation zu verbessern. Und nachdem die Chirurgen das Feld der Mammakarzinome mit weitem Abstand dominierten (und alle Patientinnen nach der Diagnose erst einmal zu ihnen kamen), konnte Carbone seine Studie nicht intensivieren: Er fand kaum Patientinnen, die bereit zur Teilnahme waren. »Bis auf die eine oder andere Patientin, 4 die sich am NCI einer Mastektomie unterzogen hatte, kam die Studie nie in Gang«, erinnerte sich Carbone.
Aber er fand eine Alternative. Von den Chirurgen gemieden, wandte er sich an den einen Chirurgen, der seinerseits seine Landsleute gemieden hatte – Bernard Fisher, den Mann, der mitten in den Kontroversen um
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