Der Koenig aller Krankheiten - Krebs, eine Biografie
Chromosomenbestand 5 … ist die Ursache für die Wucherungstendenz, die auf alle Abkömmlinge der Urzelle … übergeht.«
Boveri sah sich auf Galen und dessen uralte Idee von einer allen Erscheinungsformen von Krebs gemeinsamen Anomalie zurückgeworfen: Er nannte sie die gemeinsame Ursache von Tumoren. Krebs sei nicht eine unnatürliche Gruppe verschiedener Krankheiten, 6 sondern eine gleiche, allen bösartigen Tumoren eigene Abnormität, deren Ursache in abnormen Chromosomen zu suchen sei; sie sei daher der Krebszelle innewohnend . Die Natur dieser inneren Abnormität konnte Boveri nicht ausmachen, doch die »gemeinsame Ursache« des Karzinoms sei ebendiese Unordnung – nicht ein Chaos schwarzer Galle, sondern ein Chaos blauer Chromosomen.
Boveri veröffentlichte seine Chromosomentheorie von Krebstumoren 1914 in Form einer eleganten wissenschaftlichen Broschüre des Titels »Zur Frage der Entstehung maligner Tumoren«. Sie war ein Wunder an Fakten, Fantasie und genialer Spekulation, das Seeigel und Malignität zu einem einzigen Gebilde zusammenfügte. Aber Boveris Theorie kollidierte mit einem unvorhergesehenen Problem, einer unumstößlichen, widersprechenden Tatsache, die sich nicht wegerklären ließ. 1910, vier Jahre vor Boveris Publikation, 7 hatte Peyton Rous am Rockefeller Institute bewiesen, dass bei Hühnern ein Virus krebserregend sein kann, das später so genannte Rous-Sarkom-Virus (RSV).
Das Kernproblem war folgendes: Als Verursacher von Krebs waren Rous’ Virus und Boveris Chromosomen unvereinbar. Ein Virus ist ein Pathogen, ein Krankheitserreger, der von außen in die Zelle eindringt, ein Chromosom hingegen ein internes Gebilde, eine endogene Struktur, die wesentlicher Bestandteil der Zelle ist: zwei Gegensätze, die nicht behaupten konnten, sie seien die »gemeinsame Ursache« ein und derselben Erkrankung. Wie konnten eine interne Struktur, ein Chromosom, und ein externer Krankheitserreger, ein Virus, beide Krebs verursachen?
Weil für beide Theorien ein konkreter Beweis fehlte, schien die virale Krebsursache die weitaus attraktivere und glaubwürdigere. Viren, 1898 erstmals isoliert als winzige ansteckende Mikroben, die Erkrankungen an Pflanzen verursachten, wurden zunehmend als Erreger einer Vielzahl von Krankheiten bei Tier und Mensch erkannt. 1909, ein Jahr bevor Rous sein krebsverursachendes Virus isolierte, 8 vermutete Karl Landsteiner ein Virus als Ursache von Poliomyelitis. Ende der zwanziger Jahre waren die Erreger der Kuhpocken und der Herpesinfektion beim Menschen erkannt und wurden im Labor gezüchtet, was die Verbindung zwischen Viren und Erkrankungen bei Menschen und Tieren bestätigte.
Natürlich war der Glaube an eine Ursache untrennbar mit der Hoffnung auf Heilung verbunden. Wenn der Verursacher von außen kam und ansteckend war, schien ein Heilmittel für Krebs umso wahrscheinlicher. Eine Impfung mit dem Erreger der Kuhpocken konnte, wie Edward Jenner bewiesen hatte, der weitaus gefährlicheren Ansteckung mit Pocken vorbeugen, und die Entdeckung eines krebserregenden Virus (wenn auch nur bei Hühnern) weckte sofort die Hoffnung auf einen Impfstoff gegen Krebs. Dagegen stand Boveris Theorie, wonach Krebs von einem nicht näher benennbaren Problem in den fadenähnlichen Chromosomen verursacht werde, experimentell auf tönernen Füßen und bot keinerlei Aussicht auf Heilung.
Während das mechanistische Verständnis der Krebszelle irgendwo zwischen Viren und Chromosomen feststeckte, ging Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts eine Revolution durch die Biologie, und diese betraf das Verständnis der normalen Zelle. Den Keim dazu hatte ein kurzsichtiger Mönch der Augustinerabtei im damals österreichischen Brünn (heute Brno) gepflanzt, der neben seinem geistlichen Amt Naturforscher war und systematische Kreuzungsexperimente mit Erbsen durchführte. Anfang der 1860er Jahre hatte Gregor Mendel 9 an seinen reinrassigen Pflanzen einige Charakteristika identifiziert, die von einer Generation an die nächste vererbt werden, darunter die Farbe der Blüte, die Beschaffenheit des Samens, die Höhe der Pflanze. Wenn er mittels einer winzigen Pinzette und künstlicher Bestäubung hoch- und niedrigwüchsige, weiß und violett blühende Pflanzen miteinander kreuzte, konnte er ein bemerkenswertes Phänomen beobachten: Niedrig- und hochwüchsige Pflanzen ergaben miteinander nicht etwa Pflanzen von mittlerer Höhe, sondern hochwüchsige Pflanzen; Erbsen mit grauen, runden Samen und Erbsen mit
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