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Der Koenig aller Krankheiten - Krebs, eine Biografie

Der Koenig aller Krankheiten - Krebs, eine Biografie

Titel: Der Koenig aller Krankheiten - Krebs, eine Biografie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mukherjee Siddhartha
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spannt, veranschaulichte die internen Vorgänge in einer normalen Zelle. Aber die Vorgänge in einer Krebszelle oder die Ursache von Krebs vermochte es kaum zu erhellen – außer in zwei bemerkenswerten Ausnahmen.
    Die erste kam aus Untersuchungen am Menschen. Im neunzehnten Jahrhundert hatten Ärzte festgestellt, dass manche Krebsarten, etwa Brust- und Eierstockkrebs, familiär gehäuft auftreten. Das war an sich noch kein Beweis für eine erbliche Ursache: Familien teilen nicht nur Gene, sondern auch Gewohnheiten, Viren, Lebensmittel, Kontakt mit chemischen Substanzen, neurotische Verhaltensweisen – allesamt Faktoren, die irgendwann als Krebsursachen in Betracht kommen. Aber gelegentlich war eine Familiengeschichte so auffällig, dass sich eine erbliche Ursache (und infolgedessen eine genetische Ursache) nicht mehr ausschließen ließ. 1872 behandelte der brasilianische Augenarzt Hilário Soares de Gouveia 15 in Rio einen Jungen mit einem seltenen Augenkrebs, einem Retinoblastom (Tumor der Netzhaut), indem er ihm das Auge entfernte. Der Junge überlebte, wuchs heran und heiratete eine Frau, in deren Familiengeschichte keine Krebsfälle bekannt waren. Das Paar hatte mehrere Kinder, und zwei der Töchter erkrankten am väterlichen Retinoblastom – sie erkrankten an beiden Augen, und sie starben. De Gouveia berichtete über den mysteriösen Fall. Die Sprache der Genetik kannte er noch nicht; erst spätere Beobachter, die sich mit dem Fall beschäftigten, vermuteten einen erblichen krebsverursachenden Faktor, der in den Genen »lebte«. Aber derartige Fälle waren so selten, dass die Hypothese nicht experimentell überprüft werden konnte, und de Gouveias Bericht wurde kaum beachtet.
    Das zweite Mal umkreisten Wissenschaftler einige Jahrzehnte nach dem seltsamen brasilianischen Fall eine Krebsursache – und trafen beinahe den Nerv der Karzinogenese. In den 1910er Jahren beobachtete Thomas Hunt Morgan, der Fruchtfliegengenetiker an der Columbia University, dass in seiner Fliegenschar gelegentlich ein Mutant auftauchte. In der Biologie sind Mutanten genetisch veränderte oder von der Norm abweichende Organismen. Morgan stellte fest, dass aus einer riesigen Schar Fliegen mit normalen Flügeln gelegentlich ein »Monster« mit rauen oder gekerbten Flügeln hervorging. Diese Mutationen, erkannte Morgan, waren die Ergebnisse von Genveränderungen, und sie wurden weitervererbt.
    Was aber war die Ursache von Mutationen? 1928 erkannte Hermann Joseph Muller, 16 einer von Morgans Studenten, dass Röntgenstrahlen die Mutationsrate bei Fruchtfliegen beträchtlich erhöhen. Bei Morgans Experimenten an der Columbia University waren die Fliegenmutanten spontan entstanden. (Wenn die DNA bei der Zellteilung kopiert wird, kommt es gelegentlich zu einem Kopierfehler, der wiederum eine zufällige Veränderung in den Genen bewirkt, die sich dann als Mutationen ausprägen.) Muller stellte fest, dass er die Häufigkeit solcher Zufälle erhöhen konnte: Er bombardierte Fruchtfliegen mit Röntgenstrahlen und erzeugte innerhalb weniger Monate Hunderte von Fliegenmutanten – mehr als Morgan und seine Kollegen in fast zwei Jahrzehnten mit ihrem umfangreichen Zuchtprogramm zustande gebracht hatten.
    Der Zusammenhang zwischen Röntgenstrahlung und Mutationen führte Morgan und Muller an die Schwelle einer entscheidenden Erkenntnis. Man wusste, dass Strahlung krebserregend ist (siehe Marie Curie und die Tumoren der Zifferblattmalerinnen für selbstleuchtende Uhren). Nachdem Strahlung auch Mutationen in den Genen von Fruchtfliegen hervorrief, lautete die Frage: Ist Krebs eine Mutations krankheit? Und nachdem Mutationen genetische Veränderungen sind, lautete die zweite Frage: Kann es sein, dass genetische Veränderungen die »gemeinsame Ursache« von Krebs sind?
    Hätten Muller und Morgan, Student und Mentor, ihre beeindruckenden wissenschaftlichen Fähigkeiten zusammengelegt, hätten sie darauf vielleicht eine Antwort gefunden und den grundlegenden Zusammenhang zwischen Mutationen und Malignität erkannt. Aber aus Kollegen, die sich einmal nahestanden, waren erbitterte Rivalen geworden. Im Alter streitsüchtig und starrsinnig geworden, weigerte sich Morgan, Muller die Anerkennung für seine Theorie der Mutagenese uneingeschränkt zuzuerkennen, denn er betrachtete sie als weitgehend abgeleitete Beobachtung. Muller wiederum war empfindlich und fühlte sich verfolgt; er war überzeugt, dass Morgan seine Ideen gestohlen hatte und einen ungebührlich

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