Der Koenig aller Krankheiten - Krebs, eine Biografie
er also die sich teilenden Salamanderzellen mit Paul Ehrlichs chemischem Allzweckfarbstoff Anilin ein. Der Farbstoff machte eine blaue, fadenähnliche Substanz im Inneren des Zellkerns sichtbar, die sich unmittelbar vor der Zellteilung verdickte und zu einem Cölinblau aufhellte. Diesen blau gefärbten Strukturen gab Flemming den Namen Chromosomen , wörtlich »Farbkörper«. Er fand heraus, dass die Zellen jeder Spezies eine je eigene Anzahl von Chromosomen besitzen (beim Menschen sind es sechsundvierzig, beim Salamander vierzehn) und dass sich die Chromosomen bei der Zellteilung verdoppeln und dann gleichmäßig auf die beiden neu entstandenen Zellen aufteilen, so dass die Chromosomenzahl von Generation zu Generation gleich bleibt. Aber eine weitere Funktion konnte Flemming den mysteriösen »Farbkörpern« in der Zelle nicht zuweisen.
Hätte er nach den Salamandereiern Virchows menschliche Zellproben unter seine Mikroskoplinse gelegt, so hätte er wohl den nächsten entscheidenden Gedankensprung gemacht und die ursächliche Missbildung in der Krebszelle erkannt. Es war Virchows ehemaliger Assistent David Paul von Hansemann, 3 der auf Flemmings und Virchows Spuren wandelte und die logische Verknüpfung zwischen den beiden Phänomenen herstellte. Bei der Betrachtung von anilingefärbten Krebszellen unter dem Mikroskop stellte von Hansemann fest, dass Flemmings Chromosomen bei Krebs eindeutig missgestaltet waren: Die Krebszellen hatten gespaltene, zerfaserte, zerrissene, aufgebrochene und wieder zusammengesetzte Chromosomen, Drillinge und Vierlinge.
Von Hansemanns Beobachtungen hatten eine weitreichende Begleiterscheinung zur Folge. Die meisten Wissenschaftler seiner Zeit suchten noch immer nach Parasiten in Krebszellen. (Bennetts Theorie von der spontanen Vereiterung übte auf manche Pathologen nach wie vor eine makabre Faszination aus.) Von Hansemann hingegen war überzeugt, dass die eigentliche Abnormität in der Struktur dieser zellinternen Körper, den Chromosomen, liege und folglich in der Krebszelle selbst.
Aber war dies die Ursache oder die Folge? Hatte Krebs die Struktur der Chromosomen verändert, oder hatten die chromosomalen Veränderungen Krebs herbeigeführt? Von Hansemann hatte eine Korrelation zwischen veränderten Chromosomen und Krebs beobachtet; was er nun brauchte, war ein Experiment, das einen ursächlichen Zusammenhang belegte.
Die fehlende experimentelle Verbindung kam aus dem Labor von Theodor Boveri, der ebenfalls Assistent bei Virchow gewesen war. Wie Flemming, der mit Salamanderzellen arbeitete, suchte sich Boveri einfache Zellen in einfachen Organismen aus und benutzte die Eier von Seeigeln, die er an windigen Stränden in der Nähe von Neapel sammelte. Seeigeleier sind, wie die meisten Eier im Tierreich, streng monogam. Ist ein Spermium ins Ei eingedrungen, schottet sich das Ei augenblicklich gegen das Eindringen weiterer Samenzellen ab. Nach der Befruchtung beginnt sich das Ei zu teilen, es entstehen zwei, dann vier Zellen – und bei jeder Teilung verdoppeln sich die Chromosomen, so dass je ein Satz Chromosomen in jede Tochterzelle gelangt. Um die natürliche Trennung der Chromosomen nachzuvollziehen, 4 dachte sich Boveri ein höchst unnatürliches Experiment aus: Statt das Seeigelei von lediglich einem Spermium befruchten zu lassen, zerstörte er mit chemischen Substanzen die äußere Eimembran und ließ das Ei von zwei Spermien befruchten.
Die Mehrfachbefruchtung, stellte Boveri fest, führte zu einem Chaos, einer nicht mehr gleichmäßig aufteilbaren Zahl von Chromosomen. Das Seeigelei, dem es nicht mehr gelang, seine Chromosomen ordnungsgemäß auf seine Tochterzellen zu verteilen, geriet in fieberhafte innere Unruhe. Die wenigen Zellen, die mit der richtigen Kombination aller sechsunddreißig Seeigelchromosomen ausgestattet waren, entwickelten sich normal. Die Mehrzahl, Zellen mit falschen Kombinationen, konnte sich nicht entwickeln beziehungsweise brach die Entwicklung ab, schrumpfte ein und starb. Boveri folgerte daraus, dass Chromosomen Träger einer für Entwicklung und Zellwachstum unverzichtbaren Information seien.
Diese Schlussfolgerung führte Boveri zu einer kühnen, wenn auch weit hergeholten Mutmaßung über die Abnormität im Inneren der Krebszelle. Da Krebszellen auffällige Chromosomenaberrationen aufwiesen, vermutete er, könnten diese Anomalien der Auslöser des krankhaften, krebstypischen Wachstums sein: »Ein bestimmter, unrichtig kombinierter
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