Der Koenig aller Krankheiten - Krebs, eine Biografie
von Überschwang mit tiefem Argwohn auf: Ein Arzt, der unverhältnismäßig von kleinen Siegen schwärmt, ist derselbe, der seinen Patienten womöglich kurz danach auf die endgültige Niederlage vorbereitet. Diesmal aber besteht für Misstrauen kein Grund. Ich sage ihr, dass die Werte perfekt sind und für heute keine weiteren Untersuchungen nötig. Bei der Leukämie, das weiß sie, ist keine Nachricht die beste Nachricht.
Am späten Abend desselben Tages, nachdem ich mit meinen Aufzeichnungen fertig bin, kehre ich ins Labor zurück. Dort herrscht ein Gewusel wie in einem Bienenstock, Doktoranden und Postdocs sitzen vor Mikroskopen und Zentrifugen. Ab und zu hört man medizinische Fachbegriffe heraus, aber ansonsten hat der Jargon der Labors wenig Ähnlichkeit mit dem Jargon der Medizin. Es ist, als reiste man in ein Nachbarland, in dem ähnliche Sitten herrschen, aber eine andere Sprache gesprochen wird.
»Aber mit PCR müsste die CML schon nachweisbar sein.«
»Was hast du als Gelmatrix verwendet?«
»Agarose, vier Prozent.«
»War die RNA bei dieser Zentrifugierung zersetzt?«
Ich nehme eine Titerplatte mit Zellen aus dem Inkubator. Die Platte hat 384 winzige Vertiefungen, jede kaum groß genug für zwei Reiskörner. In jede Vertiefung habe ich zweihundert menschliche Leukämiezellen eingebracht und jeweils eine einzige chemische Substanz aus einer großen Kollektion ungetesteter chemischer Wirkstoffe hinzugefügt. Parallel dazu habe ich den »Zwilling«, eine Platte mit zweihundert normalen menschlichen blutbildenden Stammzellen und derselben Palette chemischer Substanzen pro Vertiefung, in den Inkubator gestellt.
Mehrmals am Tag fotografiert eine automatisierte mikroskopische Kamera jede Vertiefung der beiden Platten, und ein Computerprogramm berechnet die Zahl der Leukämie- und der normalen Stammzellen. Das Experiment dient der Suche nach einer Substanz, die Leukämiezellen ausmerzt, aber normale Stammzellen nicht beschädigt – der Suche nach einer spezifischen, gezielten Therapie gegen Leukämie.
Ich sauge ein paar Mikroliter Leukämiezellen aus einer Vertiefung und betrachte sie unter dem Mikroskop. Die Zellen sind grotesk aufgebläht, mit erweitertem Kern und dünnem Zytoplasmarand – typisch für eine Zelle, deren Seele vereinnahmt wurde und nun nicht anders kann, als sich zu teilen und weiter zu teilen, mit pathologischem, monomanem Starrsinn. Diese Leukämiezellen wurden mir vom National Cancer Institute geschickt, wo sie fast drei Jahrzehnte lang kultiviert und untersucht wurden. Sie wachsen noch immer mit obszöner Fruchtbarkeit und zeugen von der furchterregenden Macht dieser Krankheit.
Technisch gesehen, sind sie unsterblich. Die Frau, deren Körper sie einst entnommen wurden, ist seit dreißig Jahren tot.
Bereits 1858 erkannte Virchow die Macht der Zellteilung. 1 Er betrachtete Proben von Krebsgewebe unter dem Mikroskop und erkannte, dass Krebs zelluläre Hyperplasie ist, ein gestörtes, krankhaftes Zellwachstum. Zwar erkannte und beschrieb er diese Wucherungsneigung, die das Wesen von Krebs ist, doch ihre Ursache konnte er nicht ergründen. Er meinte, dass eine Entzündung, die mit Röte, Schwellung und Aktivierung des Immunsystems einhergehende Reaktion des Körpers auf Verletzung und Beschädigung, die Zellen veranlasse, sich unkontrolliert zu teilen, was die Entstehung bösartiger Zellen zur Folge habe. Und er hatte auch beinahe Recht: Chronische Entzündung, ein jahrzehntelang schwelender Herd, verursacht tatsächlich Krebs (zum Beispiel kann eine chronische Infektion der Leber mit dem Hepatitisvirus zu Leberkrebs führen), doch das Wesen der Ursache entging ihm. Bei einer Entzündung teilen sich die Zellen in Reaktion auf eine Verletzung, ausschlaggebend ist dabei aber ein externer Verursacher wie eine Bakterie oder Wunde. Bei Krebs bemächtigt sich der Zelle ein autonomer Teilungstrieb; ein internes Signal zwingt sie, sich unermüdlich zu teilen. Virchow schrieb Krebs der gestörten physiologischen Umgebung der Zelle zu. Dass die eigentliche Störung in der Krebszelle selbst liegt, konnte er noch nicht erkennen.
In Prag, zweihundertachtzig Kilometer südlich von Virchows Berliner Labor, versuchte der Biologe Walther Flemming 2 die Ursache der abnormen Zellteilung zu ergründen, allerdings benutzte er dazu nicht menschliche Zellen, sondern Salamandereier. Um die Vorgänge bei der Zellteilung zu begreifen, musste Flemming die innere Anatomie der Zelle sichtbar machen. 1879 färbte
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