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Der Koenig aller Krankheiten - Krebs, eine Biografie

Der Koenig aller Krankheiten - Krebs, eine Biografie

Titel: Der Koenig aller Krankheiten - Krebs, eine Biografie
Autoren: Mukherjee Siddhartha
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hundert Jahr 1 und dies
Vollbrachte eine Stunde ganz allein
    Anna Achmatowa,
»Zum Gedenken an den 19. Juli 1914«
     
 
Wie ein alter Mann, der seine Altersgenossen überlebt hat, 2 eine
wehmütige Leere empfinden mag – »es ist Zeit, dass auch ich
endlich abtrete« –, so hielt es Kostoglotow an diesem Abend
kaum im Krankenzimmer aus, obwohl alle Betten neu besetzt
waren, die Kranken alle ganz nett, und die Gespräche sich wieder
um die gleichen Fragen drehten: Krebs oder nicht? Wird man ihn
heilen können? Was für Heilmittel gibt es überhaupt?
    Alexander Solschenizyn, Krebsstation
     
    Während des Gedenkgottesdienstes für Sidney Farber 3 sieben Wochen nach seinem Tod in Boston, am 17. Mai 1973, stand Hiram Gans, ein alter Freund von ihm, auf und las ein paar Zeilen aus Swinburnes Gedicht »Der verlassene Garten« vor:
     
    Da triumphiert er nun, wo alles andre schwankt,
    Vor sich die Beute, die er geraubt mit eigner Hand,
    Als Gott, von eigner Hand gemordet, auf eigenem Altar,
    Liegt tot der Tod.
     
    Es war – aufmerksame Zuhörer mochten es bemerkt haben – eine eigenartige und bewusste Umkehrung der Fakten. Der Krebs war es, der bald tot sein sollte – sein Leichnam zeremoniell auf dem Altar hingebreitet – der Tod liegt tot.
    Das Bild ist eng mit Farber und seiner Zeit verknüpft, seine Kernaussage aber geht uns nach wie vor an. Jede Biografie muss sich am Ende mit dem Tod befassen. Ist es denkbar, dass es mit dem Krebs irgendwann in der Zukunft ein Ende hat? Ist es möglich, diese Krankheit für immer aus unserem Körper und unserer Gesellschaft auszurotten?
    Die Antwort auf diese Fragen liegt in der Biologie dieser unglaublichen Krankheit. Krebs, wissen wir heute, ist unserem Genom eingewoben. Onkogene entstehen durch Mutationen von Genen, die das Zellwachstum regulieren. Mutationen häufen sich an, wenn die DNA durch Karzinogene geschädigt ist, aber auch aufgrund anscheinend zufälliger Kopierfehler bei der Zellteilung. Die eine Ursache mag vermeidbar sein, die andere ist es nicht; sie ist endogen. Krebs ist ein Defekt unseres Wachsens, und dieser Defekt ist fester Bestandteil von uns. Folglich können wir den Krebs nur so weit loswerden, wie wir uns von unseren physiologischen Prozessen befreien können, die wachstumsabhängig sind – Altern, Regeneration, Heilung, Fortpflanzung.
    Die Wissenschaft verkörpert das Bedürfnis des Menschen, die Natur zu verstehen; die Technologie verbindet dieses Bedürfnis mit dem Ehrgeiz, die Natur zu kontrollieren. Es sind verwandte Impulse – vielleicht will man die Natur verstehen, um sie besser kontrollieren zu können –, doch den Drang, aktiv einzugreifen, hat allein die Technologie. Die Medizin ist also im Wesentlichen eine technische Kunstfertigkeit; in ihrem Zentrum steht der Wunsch, das Leben des Menschen durch Eingriff ins Leben selbst zu verbessern. Begrifflich treibt der Kampf gegen den Krebs die Idee der Technologie ins Extrem, denn Gegenstand des medizinischen Eingreifens ist unser Genom. Ob eine Intervention, die zwischen bösartigem und normalem Wachstum unterscheidet, überhaupt möglich ist, wissen wir nicht. Vielleicht ist der Krebs, der rauflustige, fruchtbare, invasive, anpassungsfähige Zwilling unserer eigenen rauflustigen, fruchtbaren, invasiven, anpassungsfähigen Zellen und Gene, unmöglich von unserem Körper zu trennen. Vielleicht definiert Krebs die naturgegebene letzte Grenze unseres Lebens. Da unsere Zellen sich teilen und unsere Körper altern, und da Mutationen sich unerbittlich übereinanderhäufen, kann der Krebs sehr wohl die Endstation unserer Entwicklung als Organismus sein.
    Aber unsere Ziele könnten bescheidener sein. Über der Tür zu Richard Petos Büro in Oxford hängt einer von Dolls Lieblingsaphorismen: »Tod im Alter ist unvermeidlich, aber Tod vor dem Alter nicht.« Dolls Idee ist ein viel vernünftigeres Nahziel, um zu definieren, was Erfolg im Krieg gegen den Krebs bedeutet. Es kann sein, dass wir dieser uralten Krankheit schicksalhaft verbunden sind und ihr Katz-und-Maus-Spiel in der absehbaren Zukunft unserer Spezies weiterspielen müssen. Aber wenn sich Tod durch Krebs vor Erreichen des Alters vermeiden lässt, wenn die Verkettung von Behandlung, Widerstand, Rückfall und weiterer Behandlung weiter und weiter hinausgeschoben werden kann, dann wird sich unsere Sichtweise auf diese alte Krankheit verändern. Angesichts dessen, was wir über Krebs wissen, wäre auch dies ein technologischer Sieg, der in
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