Der Koenig aller Krankheiten - Krebs, eine Biografie
statistischer Beobachtung gelebt, sich fortgepflanzt, ist gealtert und gestorben: Sie bietet einen seltenen Einblick in die Naturgeschichte von Leben, Krankheit und Tod.
Das Datenmaterial aus Framingham hat eine Vielzahl von Studien über Krankheit und Risiko hervorgebracht. Hier wurde der Zusammenhang zwischen Cholesterin und Herzinfarkt offiziell bestätigt, ebenso die Verbindung zwischen Schlaganfall und Bluthochdruck. Doch in letzter Zeit wurde hier auch ein begrifflicher Wandel im epidemiologischen Denken eingeleitet. Epidemiologen beurteilen in der Regel die Risikofaktoren für chronische, nichtinfektiöse Krankheiten, indem sie das Verhalten von Individuen studieren. In jüngster Zeit aber stellten sie eine ganz andere Frage: Kann es sein, dass der eigentliche Ort des Risikos nicht im Verhalten einzelner Akteure liegt, sondern in sozialen Netzwerken ?
Von diesem Begriff gingen zwei Epidemiologen aus Harvard, 9 Nicholas Christakis und James Fowler, aus, als sie im Mai 2008 die Dynamik des Rauchens untersuchten. Als Erstes zeichneten sie ein Diagramm aller bekannten Beziehungen in Framingham – Freunde, Nachbarn und Verwandte, Geschwister, Exfrauen, Onkel, Tanten – als dicht gewebtes Geflecht. Abstrakt betrachtet, begannen sich darin unmittelbar vertraute Muster abzuzeichnen. Im Epizentrum dieser Netzwerke standen, durch zahlreiche Beziehungen eng miteinander verbunden, einige Männer und Frauen (nennen wir sie »Bezugspersonen«). Den Kontrast zu ihnen bildete eine gewisse Anzahl von »Einzelgängern« mit wenigen, kurzlebigen Kontakten am Rand des sozialen Geflechts.
Als die Epidemiologen das Rauchverhalten neben dieses Netzwerk stellten und dessen Werdegang über Jahrzehnte verfolgten, trat ein bemerkenswertes Phänomen zutage: Beziehungskreise sagten mehr als praktisch jeder andere Faktor über die Dynamik des Rauchens aus. Wie abgeschaltete Stromkreise stellten ganze Netzwerke übereinstimmend das Rauchen ein. Eine Familie, die ihre Mahlzeiten miteinander einnahm, war auch eine Familie, die gemeinsam mit dem Rauchen aufhörte. Wenn »Bezugspersonen« mit einem dichten Beziehungsgeflecht nicht mehr rauchten, hörte der rings um sie angeordnete soziale Kreis als Gruppe nach und nach ebenfalls damit auf. Infolgedessen verlagerte sich das Rauchen mit der Zeit an die Peripherie sämtlicher Netzwerke und beschränkte sich auf die Außenseiter mit wenigen sozialen Kontakten, die in fernen, abgelegenen Winkeln der Stadt weiter still vor sich hin qualmten.
Die Studie über das Netzwerk des Rauchens stellt meines Erachtens eine gewaltige Herausforderung für allzu simple Modelle der Krebsprävention dar. Rauchen, argumentiert dieses Modell, ist in unserer sozialen DNA ebenso fest und unentwirrbar verankert, wie die Onkogene Bestandteil unserer genetischen Ausstattung sind. Die Zigarettenepidemie, wir erinnern uns, begann als eine Form von metastatischem Verhalten – ein Urkeim bildet Ableger um Ableger. Soldaten brachten das Rauchen ins Nachkriegseuropa; Frauen überredeten Frauen zum Rauchen; die Tabakindustrie, die Gelegenheit witternd, bewarb die Zigarette als eine Form von sozialem Klebstoff, der Individuen zu Gruppen mit festem Zusammenhalt »verleimt«. Die Fähigkeit zur Metastasierung ist integraler Bestandteil des Rauchens. Wenn ganze Raucher-Netzwerke mit katalytischem Tempo verwelken können, so können sie auch mit katalytischem Tempo aufsprießen. Durchtrennen Sie die Bande zwischen den Nichtrauchern von Framingham (oder schlimmer, lassen Sie ein großes soziales Netzwerk rund um einen missionarischen Raucher heranwachsen), und das gesamte Netzwerk könnte sich erdrutschartig verwandeln.
Das ist der Grund, weshalb selbst die erfolgreichsten Krebspräventionsstrategien mitunter so schnell hinfällig werden. Wenn die Füße der Roten Königin auch nur für einen Moment erlahmen, kann sie ihre Position nicht halten; die sich in die entgegengesetzte Richtung bewegende Welt zieht ihr den Boden unter den Füßen fort. Genauso steht es um die Krebsprävention. Wenn Antiraucherkampagnen ihre Wirksamkeit oder ihren Platz im öffentlichen Bewusstsein verlieren – wie in letzter Zeit bei den Teenagern in Asien und den USA –, kehrt das Rauchen oft wieder zurück wie eine alte Seuche. Sozialverhalten metastasiert, es arbeitet sich von der Mitte eines sozialen Netzes zu den Rändern hin. Miniepidemien verschiedener mit dem Rauchen in Zusammenhang stehender Krebsformen werden zweifellos folgen.
Auch die
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