Der Koenig aller Krankheiten - Krebs, eine Biografie
im Umgang mit Atossas Brustkrebs abermals eine Wende ein. Die frühe Diagnostizierung des Tumors und Atossas ethnische Herkunft, ihre Abstammung von den Achämeniden, werfen die Frage auf, ob sie Trägerin einer Mutation in BRCA1 oder BRCA2 ist. Atossas Genom wird sequenziert, und tatsächlich findet sich eine Mutation. Sie nimmt an einem Intensiv-Screeningprogramm teil, damit ein allfälliger Tumor in der gesunden Brust beizeiten entdeckt wird. Ihre beiden Töchter werden ebenfalls getestet. Da sich bei beiden für BRCA1 ein positiver Befund ergibt, werden sie zur Vorbeugung gegen einen invasiven Krebs vor die Wahl zwischen intensiver Vorsorge, prophylaktischer beidseitiger Mastektomie und Tamoxifen gestellt. Screening und Prophylaxe haben für Atossas Töchter einschneidende Folgen. Bei der einen zeigt eine Kernspinuntersuchung der Brust einen kleinen Knoten. Er wird als Tumor diagnostiziert und in einem frühen, präinvasiven Stadium operativ entfernt. Die andere Tochter entschließt sich zu einer prophylaktischen Mastektomie. Nachdem ihre Brüste vorsorglich entfernt wurden, wird sie brustkrebsfrei leben können.
Versetzen wir Atossa jetzt in die Zukunft. 2050 kommt sie mit einem daumengroßen USB-Stick in die Praxis des Onkologen, auf dem die gesamte Sequenz des Krebsgenoms mitsamt jeder Mutation jedes Gens gespeichert ist. Die Mutationen sind zu Signalwegen geordnet. Ein Algorithmus könnte die Signalwege identifizieren, die zum Wachstum und zum Überleben des Karzinoms beitragen. Therapien werden sich spezifisch gegen diese Signalwege richten, um einem Rezidiv nach der Operation vorzubeugen. Atossa wird mit einer bestimmten Kombination zielgenauer Arzneimittel beginnen, wird dann, wenn ihr Krebs mutiert, auf einen zweiten Cocktail umsteigen und bei einer weiteren Mutation wohl noch einen dritten Wechsel vornehmen. Sie wird wahrscheinlich für den Rest ihres Lebens irgendeine Medikation erhalten, ob vorbeugend, heilend oder lindernd.
Das ist zweifellos ein enormer Fortschritt. Doch ehe wir uns von Atossas verlängerter Lebenserwartung allzu sehr blenden lassen, lohnt es sich, die Perspektive zu wechseln. Lassen Sie Atossa um 500 v. Chr. an metastasierendem Bauchspeicheldrüsenkrebs erkranken, und ihre Prognose hätte sich über zweieinhalb Jahrtausende hinweg um gerade mal ein paar Monate verbessert. Geben Sie ihr einen Gallenblasenkrebs, der inoperabel, weil unzugänglich ist, und ihre Überlebenschance verändert sich über Jahrhunderte in kaum nennenswerter Weise. Selbst Brustkrebs zeigt im Ergebnis eine ausgeprägte Heterogenität. Wenn Atossas Tumor metastasiert hat oder keine Östrogenrezeptoren aufweist, Her-2 -negativ ist und auf die Standardchemotherapie nicht anspricht, stehen ihre Chancen kaum besser als zu Hunters Zeit. Lassen wir sie hingegen an CML oder Hodgkin-Lymphom erkranken, dürfte sich ihre Lebenserwartung um dreißig bis vierzig Jahre verlängert haben.
Dass der künftige Verlauf des Krebses so unvorhersehbar ist, liegt zum Teil daran, dass wir die biologische Grundlage dieser Heterogenität nicht kennen. Zum Beispiel können wir noch nicht ermessen, was den Pankreas- oder Gallenblasenkrebs so deutlich von CML oder Atossas Brustkrebs unterscheidet. Fest steht hingegen, dass wir den Krebs wohl auch dann nicht vollständig aus unserem Leben ausrotten können, wenn wir alles von seiner Biologie wissen. Wie Doll vorschlägt – und Atossa versinnbildlicht –, könnten wir uns nicht die Überwindung des Todes, sondern die Verlängerung des Lebens zum Ziel setzen. Diesen Krieg gegen den Krebs »gewinnt« man am besten, indem man den Sieg neu definiert.
Atossas Zeitreise wirft eine Frage auf, die auch in diesem Buch stillschweigend gestellt wurde: Können wir, wenn unser Verständnis von Krebs und unsere Behandlungsstrategien sich im Lauf der Zeit immer wieder so radikal ändern, anhand seiner Vergangenheit Vorhersagen über die Zukunft von Krebs machen?
1997 antwortete Richard Klausner, 5 der Direktor des NCI, auf die Berichte, wonach die Krebsmortalität während der neunziger Jahre enttäuschend statisch geblieben sei, die medizinischen Realitäten eines Jahrzehnts hätten wenig Einfluss auf die Realitäten des nächsten. »Es gibt viel mehr gute Historiker als gute Propheten«, schrieb Klausner. »Wissenschaftliche Entdeckungen vorherzusagen ist außerordentlich schwierig, denn diese sind oft Ergebnis bahnbrechender Erkenntnisse aus ganz unerwarteten Richtungen. Das klassische
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