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Der Koenig aller Krankheiten - Krebs, eine Biografie

Der Koenig aller Krankheiten - Krebs, eine Biografie

Titel: Der Koenig aller Krankheiten - Krebs, eine Biografie
Autoren: Mukherjee Siddhartha
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die Wachsamkeit einmal nach, und sei es nur für einen Moment, verschiebt sich das Kräfteverhältnis auf der Stelle. In Lewis Carrolls Alice hinter den Spiegeln klärt die Rote Königin Alice darüber auf, dass sie, weil die Welt unter ihren Füßen sich so rasch verändert, ständig rennen muss, um an Ort und Stelle zu bleiben. Das ist auch unsere Zwangslage gegenüber dem Krebs: Wir müssen weiterrennen, um wenigstens unsere Position zu halten.
    In den zehn Jahren seit der Entdeckung von Glivec wurden vierundzwanzig neuartige Arzneimittel 6 vom National Cancer Institute als zielgerichtete Therapieansätze gegen Krebs aufgelistet. Dutzende weitere befinden sich in Entwicklung. Die vierundzwanzig Arzneimittel wirken nachgewiesenermaßen gegen Lungen-, Brust-, Dickdarm- und Prostatakrebs, gegen Sarkome, Lymphome und Leukämien. Manche, wie Dasatinib, steuern direkt Onkogene an und inaktivieren sie. Andere richten sich gegen Signalwege, die von einem Onkogen aktiviert werden – die von Weinberg aufgestellten »Kennzeichen von Krebs«. Das Medikament mit dem Handelsnamen Avastin unterbricht die Tumorangiogenese, indem es die Fähigkeit der Krebszellen angreift, Blutgefäße wachsen zu lassen. Bortezomib, das unter dem Handelsnamen Velcade vertrieben wird, blockiert einen in Krebszellen besonders aktiven internen Abfallentsorgungsmechanismus für Proteine.
    Mehr als nahezu alle anderen Krebsarten versinnbildlicht das multiple Myelom, ein Krebs der Zellen des Immunsystems, die Auswirkungen dieser neuen zielgerichteten Therapien. In den 1980er Jahren wurde das multiple Myelom mit hochdosierter Standard-Chemotherapie behandelt – mit alten, seit langem bewährten Arzneimitteln, die in der Regel die Patienten fast so schnell dezimierten wie den Krebs. Im Verlauf eines Jahrzehnts 7 wurden drei neue zielgerichtete Therapien gegen das multiple Myelom entwickelt: Velcade, Thalidomid und Revlimid, deren Wirkungsweise darin besteht, dass sie aktivierte Signalwege in Myelomzellen unterbrechen. Bei der Behandlung des multiplen Myeloms werden heute diese Wirkstoffe mit Standard-Chemotherapeutika gemischt und aufeinander abgestimmt; tritt ein Rezidiv ein, kann man auf ein anderes Medikament umsteigen. Das Myelom ist nicht mit einer einzelnen Arznei oder Therapie vollständig heilbar; es ist nach wie vor eine tödliche Krankheit. Aber wie bei CML hat das Katz-und-Maus-Spiel mit dem Krebs die Überlebenszeit von Myelompatienten verlängert – in manchen Fällen sogar ganz erstaunlich. 1971 war rund die Hälfte der Patienten mit der Diagnose multiples Myelom innerhalb von zehn Jahren tot. 2008 wird rund die Hälfte aller Myelompatienten, die mit dem wechselnden Instrumentarium neuer Arzneimittel behandelt werden, in fünf Jahren noch leben. Wenn der Überlebenstrend anhält, wird die andere Hälfte noch weit jenseits der Zehn-Jahres-Grenze am Leben sein.
    2005 fragte mich ein Mann, bei dem ein multiples Myelom diagnostiziert worden war, ob er den Schulabschluss seiner Tochter ein paar Monate später noch erleben werde. 2009 erlebte er, im Rollstuhl sitzend, den Collegeabschluss seiner Tochter. Der Rollstuhl hatte mit Krebs nichts zu tun: Der Mann hatte das Baseball-Team seines jüngsten Sohnes trainiert und war gestürzt.
    In einem erweiterten Sinn gilt das Rote-Königin-Syndrom – dauernd rennen müssen, nur um nicht abgehängt zu werden – auch für jeden einzelnen Aspekt des Kampfes gegen den Krebs, auch für die Früherkennung und die Vorsorge. Zu Beginn des Winters 2007 reiste ich nach Framingham in Massachusetts, um den Ort einer Studie zu besichtigen, die wahrscheinlich unsere Sicht auf die Krebsprävention verändern wird. Framingham ist, obwohl eine kleine, unscheinbare Stadt im Nordosten, die im Winter an einer zugefrorenen Seenkette liegt, ein symbolträchtiger Ort, der in die Geschichte der Krebsmedizin eingeschrieben ist. 1948 identifizierten Epidemiologen 8 eine Kohorte von rund fünftausend in Framingham lebenden Menschen. Jahr für Jahr wurden das Verhalten dieser Kohorte, ihre Gewohnheiten, ihre gegenseitigen Beziehungen und ihre Krankheiten im Detail festgehalten, wodurch ein unschätzbares über die Zeit angelegtes Datenkorpus für Hunderte epidemiologische Studien entstand. Die englische Krimiautorin Agatha Christie benutzte oft das fiktive Dorf St. Mary Mead als Mikrokosmos für alles Menschliche: Dieses englische Dorf ist Framingham für den amerikanischen Epidemiologen. Seine Kohorte hat unter scharfer
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