Der Koenig aller Krankheiten - Krebs, eine Biografie
Landschaft der Karzinogene ist nicht statisch. Wir äffen die Chemie nach: Seitdem wir die Fähigkeit erworben haben, Moleküle zu extrahieren, zu reinigen und reagieren zu lassen, um daraus neue, wundersame Moleküle herzustellen, haben wir begonnen, uns ein neues chemisches Universum zu spinnen. Das heißt aber, dass wir unseren Körper, unsere Zellen, unsere Gene ständig einem sich verändernden Strom von Molekülen aussetzen: Wir bringen uns mit Pestiziden, Pharmazeutika, Kunststoffen aller Art, mit Kosmetika, Östrogenen und anderen Hormonen, industriellen Lebensmitteln, auch neuartigen physikalischen Impulsen wie Strahlung und Magnetismus in Kontakt. Manche werden zwangsläufig krebserregend sein. Wir können uns diese neue Welt nicht wieder fortwünschen; vielmehr ist es unsere Aufgabe, sie aufmerksam zu sichten, um echte Karzinogene von harmlosen und nützlichen Zuschauern zu unterscheiden.
Das ist leichter gesagt als getan. 2004 vermutete eine Fülle früher wissenschaftlicher Berichte, die Mobilfunkstrahlung könnte möglicherweise einen tödlichen Gehirntumor auslösen, nämlich ein Gliom. Für diesen Zusammenhang sprach, dass sich bei den Betroffenen das Gliom auf derselben Hirnseite gebildet hatte, an die das Mobiltelefon vorwiegend gehalten wurde. Die Meldung löste eine lawinenartige Medienpanik aus. War dies nun ein fälschlich als solches wahrgenommenes Zusammentreffen zwischen einem verbreiteten Phänomen, dem mobilen Telefonieren, und einer seltenen Krankheit, dem Gliom? Oder hatten Epidemiologen die »Nylonstrümpfe« des digitalen Zeitalters verpasst?
Im selben Jahr 2004 trat eine sehr groß angelegte britische Studie an, diese ominösen frühen Berichte zu bestätigen. »Fälle« – Patienten mit einem Gliom – wurden mit »Kontrollen« – tumorfreien Probanden – hinsichtlich der Nutzung von Mobiltelefonen verglichen. Die 2006 veröffentlichte Studie schien anfangs ein erhöhtes Risiko rechtsseitiger Gehirntumoren bei Personen, die ihr Telefon bevorzugt ans rechte Ohr hielten, zu bestätigen. Doch bei sorgfältiger Analyse der Daten trat ein mysteriöses Muster zutage: Der rechtsseitige Handygebrauch reduzierte das Risiko linksseitiger Gehirntumoren. Die einfachste logische Erklärung dieses Phänomens war die so genannte Erinnerungsverzerrung: Patienten mit der Diagnose Gehirntumor hatten im Nachhinein das Gefühl, sie hätten vorwiegend auf der Seite des Kopfes telefoniert, auf der sich der Tumor befand, und blendeten die andere Seite selektiv aus. Nach Korrektur dieser Verzerrung zeigte sich keine nennenswerte Verbindung zwischen Gliomen und dem Gebrauch von Mobiltelefonen insgesamt. Präventionsexperten – und telefonsüchtige Teenager – dürften sich gefreut haben, allerdings nur kurz. Als die Studie abgeschlossen wurde, waren bereits neue Telefone auf dem Markt und hatten die alten verdrängt, wodurch selbst die negativen Ergebnisse fragwürdig wurden.
Der Fall des mobilen Telefonierens ist eine ernüchternde Erinnerung daran, welche methodologische Strenge notwendig ist, um neue Karzinogene zu beurteilen. Krebsängste zu schüren ist leicht. Ein echtes, vermeidbares Karzinogen zu identifizieren, das Ausmaß des Risikos bei maßvoller Dosis und maßvollem Kontakt mit ihm einzuschätzen und die Belastung durch wissenschaftliche und gesetzgebende Intervention zu reduzieren – mit anderen Worten, das Vermächtnis von Percivall Pott lebendig zu halten –, das ist eine weitaus komplexere Aufgabe.
»Zu Beginn des neuen Jahrtausends«, 10 schrieb der Onkologe Harold Burstein, »sitzt der Krebs an der Schnittstelle zwischen Gesellschaft und Wissenschaft.« Er stellt uns nicht vor eine, sondern vor zwei Herausforderungen. Die erste, die »biologische Herausforderung« von Krebs, besteht unter anderem darin, dass wir »den fantastischen Zuwachs an wissenschaftlicher Erkenntnis nutzen … um diese uralte, schreckliche Krankheit zu überwinden«. Die zweite aber, die »soziale Herausforderung«, ist nicht weniger drängend: Nicht zuletzt zwingt sie uns zu einer Auseinandersetzung mit unseren Gewohnheiten, Ritualen und Verhaltensweisen. Diese sind leider nicht Gewohnheiten und Verhaltensweisen am Rand unserer Gesellschaft oder unser selbst, sondern sie stehen im Zentrum unseres Selbstbildes: Sie betreffen das, was wir essen und trinken, was wir erzeugen und in unserer Umwelt verbreiten, den Zeitpunkt unserer Fortpflanzung und die Art unseres Alterns.
ATOSSAS KRIEG
Wir alterten ein
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