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Der König der Diamanten

Der König der Diamanten

Titel: Der König der Diamanten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Tolkien
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Freispruch.
    Da erklang aufs Neue die gleichmäßige und wohlgesetzte Stimme des Assistenten:
    »Beim Tatbestand des Mordes – wofür halten Sie den Angeklagten? Für schuldig oder für nicht schuldig?«
    »Bitte, bitte, bitte«, schrie David in sich hinein. Doch keiner hörte ihn. Was man im Gerichtssaal hörte, war die Falsett-Stimme des Geschworenensprechers, die das Wort »schuldig« formulierte und damit das Ende von David Swains Leben einläutete.
    Auf dieses Wort hatte jeder hier im Gerichtssaal gewartet. Mit einem kollektiven Stöhnen atmeten alle Anwesenden gleichzeitig aus und verstummten gleich wieder, denn ein spindeldürrer Mann im Mantelrock tauchte hinter dem Richterstuhl auf und plazierte schweigend ein quadratisches Tuch aus schwarzer Seide auf dem perückenbesetzten Kopf des alten Mannes.
    Und dann begann der Richter, das Urteil zu verkünden, wobei er jede einzelne Silbe betonte, als handele sich dabei um eine altertümliche Beschwörungsformel:
    »David Swain: Ihr Urteil lautet, dass Sie in das Gefängnis zurückgebracht werden, in dem Sie zuletzt waren, dass Sie dann an eine Hinrichtungsstätte gebracht werden, wo Sie den Tod durch Hängen erleiden werden, und dass danach Ihre Leiche …«
    Weiter kam er nicht. Die Stille des Gerichtssaals wurde durch eine Stimme aus den hinteren Reihen der Zuschauertribüne unterbrochen, und als David aufblickte, sah er seine Mutter mit gereckter Faust dastehen. Sie trug das dunkelgraue Kleid, das sie auch bei ihrem Besuch im Gefängnis angehabt hatte.
    »Nein«, rief sie. »Nein, das wird nicht passieren. Er gehört mir. Er ist mein Fleisch und Blut. Das lasse ich nicht zu.« Sie bückte sich schnell, zog einen ihrer Schuhe aus und warf ihn quer durch den Gerichtssaal nach dem Richter. Der Schuh traf sein Ziel nicht, sondern schlug kurz vor der Richterempore auf, um schließlich vor den Füßen von Macrae liegen zu bleiben, der bis zu diesem Zeitpunkt mit selbstgefälliger Genugtuung in seinem wächsernen Gesicht am Tisch mit den Beweisstücken gesessen hatte.
    Schlagartig herrschte Chaos. Die Zuschauer sprangen auf, rempelten sich an und schrien durcheinander, während der Richter und der Mann im Mantelrock durch die Tür hinter der Empore verschwanden und David von der Anklagebank weggeführt wurde, ohne erfahren zu haben, was mit seiner Leiche geschehen würde, nachdem er den Tod durch Hängen erlitten hätte.
    Zurück in der Zelle kniete er sich auf den harten Zementboden und umklammerte die Toilettenschüssel in der Ecke, als sei er am Ertrinken. Ihm war übel, in seinem Magen rumorte es, und mit dem säuerlichen Geschmack von Erbrochenem im Mund würgte er. Doch nichts passierte. Er lehnte den Kopf an das kalte Porzellan. Erneut sah er auf dem Friedhof von Wolvercote den Regen auf den Sarg seines Vaters fallen und stellte sich vor, auf der hölzernen Falltür des Galgens zu stehen und im nächsten Moment tot zu sein, für immer ausgelöscht. Als würde man an einem Wandschalter das Licht ausdrehen. Das Leben kam ihm plötzlich so kostbar vor: Luft und Sonne und Wasser, Kastanien in den Taschen seiner Schuluniform, ein Sommernachmittag mit seinem tief in Katyas blonden Haaren vergrabenen Gesicht, er an der Hand seiner Mutter, als er noch ein Kind war und sie die Straße zum Spielplatzüberquerten. Erst jetzt begriff er, dass sie ihn liebte – jetzt, da sie vor allen Leuten mit ihrem Schuh geworfen hatte. Er liebte sie für diese Missachtung der Regeln, doch ihm war klar, dass das nichts ändern würde. Die Körnchen der Sanduhr rannen jetzt in Windeseile nach unten.
    Er hatte nicht viel aus seinem Leben gemacht. Jetzt wünschte er sich, er hätte seine Zeit besser genutzt. Aber er war jung, er könnte sich noch ändern. Nur leider hatte er jetzt nicht mehr die Gelegenheit dazu. Er musste nicht sterben, weil er Krebs hatte oder eine andere unheilbare Krankheit, sondern weil fremde Menschen entschieden hatten, dass das so sein sollte. Es
musste
nicht so sein, aber es
würde
so sein. Er würde sterben und genau wie sein Vater in ein Loch gelegt werden, und die Welt würde sich genau wie bisher weiterdrehen. Schon bald würde keiner mehr an ihn denken, außer vielleicht seine Mutter und Max, der seinen Bruder eines schönen Morgens kennengelernt und ihn jetzt auch schon wieder verloren hatte.
    Die Tränen liefen über Davids Gesicht, sein Rücken bebte und sein Magen drehte sich, ohne dass die Wachleute im Old Bailey besonders darauf achteten. Der Gefangene

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