Der König der Diamanten
freinehmen.«
»Großartig«, sagte er. So glücklich hatte er noch nie geklungen.
»Schön, dann bis morgen.«
Sie legte den Hörer auf und merkte, dass sie weder das Urteil erwähnt noch Titus nach dem Mann mit der Waffe gefragt hatte, der ihm so Angst machte. Aber darüber und über diverse andere Dinge konnte man ja auch noch morgen reden – bevor sie sich dann aus irgendeinem Grund entschuldigen und im Obergeschoss nach Katyas Tagebuch suchen würde.
Als sie am nächsten Morgen aufwachte, lag dichter, weißer Nebel über der Stadt. Die Türmchen des Keble College, die normalerweise den Ausblick aus ihrem Wohnzimmerfenster dominierten, waren nur als Umrisse zu erkennen. Den ganzen Vormittag hoffte sie, der Nebel würde sich lichten, doch tatsächlich war er dichter als je zuvor, als sie sich schließlich ein Herz fasste und in ihr Auto stieg, um nach Blackwater zu fahren.
Die Fahrt dauerte viel länger als sonst, denn sie musste sich den Weg geradezu ertasten. Osman wartete schon, als sie schließlich ankam und die Scheinwerfer ausmachte. Er ging eilig die Treppe hinunter, öffnete die Türe und nahm sie am Arm, um sie in die Wärme der Eingangshalle zu führen. Ein Gefühl der Erleichterung durchströmte sie, während sie den Mantel ablegte und vor Titus den Salon betrat. Doch sie hielt abrupt inne, als sie Claes am Kamin stehen sah. Sie war nicht in der Lage, seine ausgestreckte Hand zu ergreifen. An dieser Unhöflichkeit schien Claes sich allerdings nicht im Geringsten zu stören. Er grinste nur breit, und die Gesichtsmuskeln ließen sowohl die weiße Narbe unter seinemOhr als auch die rote Hautpartie am Kinn hervortreten. Das sah schon fast unanständig aus, dachte Vanessa, und wahrscheinlich war der Effekt auch beabsichtigt. Ihr war, als sei mit ihr ein unsichtbarer Nebel ins Haus gekommen.
Auch Osman schien sich über Claes’ Anwesenheit nicht sonderlich zu freuen, doch dieser zeigte sich relativ unberührt von dem offensichtlichen Wunsch seines Schwagers, allein zu sein. Das Mittagessen war eine Tortur. Vanessa sah immer wieder zur Türe und bereitete sich darauf vor, sich zu entschuldigen – um dann die Treppe hinaufzugehen und nach dem Tagebuch zu suchen. Doch jedesmal, wenn sie den Mund aufmachen wollte, bemerkte sie aus dem Augenwinkel, wie Claes sie beobachtete. Sie war sich absolut sicher, dass er wusste, was sie vorhatte. Deshalb schaute sie wieder auf den Esstisch und sah zu, wie er mit seinen knochigen Fingern Messer und Gabel hielt und das Fleisch auf seinem Teller zerteilte. Sie stellte sich vor, wie er ihr Fleisch zerteilen, sie zersägen, ihr beim Verbluten zusehen würde.
Sie konnte nichts essen. Sie fühlte sich schwach, ja hilflos – die Angst vor Claes lähmte sie fast. Was, wenn gar kein Tagebuch da wäre? Was, wenn Swain schuldig war – so wie die Geschworenen geurteilt hatten? Aber ihr fiel ein, wie Swain sich still bei ihr bedankt hatte, als sie den Zeugenstand verließ. Und er war ja noch so jung – nicht viel älter, als ihr Sohn gewesen war.
»Haben Sie mitbekommen, wie das Urteil ausfiel, Mrs. Trave?«, fragte Claes in die Stille.
»Ja«, erwiderte sie, ohne ihn anzusehen.
»Und was halten Sie davon?«, fragte er. »Für Sie muss das ja enttäuschend sein, nachdem Sie noch versucht haben, Swain zu entlasten.«
»Nein«, sagte sie leise. »Die Verurteilung liegt bei der Jury, nicht bei mir.«
»Ganz recht, meine Liebe«, pflichtete Osman ihr bei. »Diese Prozesse sind sehr unangenehm. Wir tun, was man von uns verlangt,und machen unsere Aussage, sei das jetzt im Sinne der Staatsanwaltschaft oder der Verteidigung. Aber das bedeutet noch lange nicht, dass man das genießt – oder gar das, was danach kommt. Ich persönlich bin kein Freund der Todesstrafe, aber ich kann verstehen, dass manche Leute sie für nötig halten.«
Claes schnaubte, als traue er seinen Ohren nicht. »Wovon redest du?«, fragte er. »Ohne die Todesstrafe kann es kein Recht und Gesetz geben. Man müsste sie öfter einsetzen, nicht seltener. Für Abschaum wie Swain ist der Strang noch viel zu schnell. Für das, was er getan hatte, sollte man ihn erwürgen.«
Vanessa blickte auf, denn Claes’ Sadismus schockierte sie. Sie konnte gerade noch sehen, wie verärgert Titus dreinblickte, bevor sich in seinem Gesicht wieder ein süffisantes Lächeln breitmachte.
»Ich denke, hie und da müsste man eine Ausnahme machen«, sagte er bedächtig, ohne den Blick von Claes zu wenden. »Bei Adolf Eichmann zum
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