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Der König der Diamanten

Der König der Diamanten

Titel: Der König der Diamanten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Tolkien
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halbe Stunde, die sie vereinbart hatten –, doch als er zurück zur Straße kam, war von dem Auto nichts mehr zu sehen. Es gab den Wald und oben ein Käuzchen, das anschlug – und das war dann auch alles. David ballte vor Wut die Fäuste und spürte, wie der Schmerz von seiner Schulter in den Arm hinunter schoss. Er musste aufhören, an Eddie zu denken. Das kostete nur Kraft, und davon hatte er ohnehin nicht mehr viel übrig.
    Er lehnte sich wieder an den Baum und schloss die Augen. Zufällig berührte er mit den Fingern die rotbraune Oberfläche einer der Kastanien, die um ihn herum verstreut am Boden lagen. Irgendwie schien ihm das Halt zu geben, vielleicht, weil er sich an seine Kindheit erinnert fühlte. Als er noch in der Schule war, zogen er und seine Freunde eine dünne Schnur durch das weiche Innere der Conker, wie sie sie nannten, und kämpften dann damit auf dem Spielplatz gegeneinander, indem sie versuchten, die Kastanie des Gegners zu treffen, bis schließlich eine von beiden kaputtging.
Conker
. David musste an eine besonders harte Kastanie denken. Die war einstmals sein wertvollster Besitz gewesen, der Sieger zahlloser Kämpfe, ein Held schon zu Lebzeiten, war jetzt allerdings längst vergessen – in irgendeiner Schublade wahrscheinlich. In dem Haus auf der anderen Seite von Oxford, wo seine frühzeitig gealterte Mutter jetzt mit Ben Bishop zusammenlebte, der Busfahrer war und ihn behandelte, als sei er Luft. Das war nicht mehr Davids Zuhause, schon lange nicht mehr, doch im Moment fiel ihm kein anderer Ort ein, wo er hingehen konnte. Sonntags arbeitete Ben, und er brauchte jemand, der ihm die Wunde reinigte, ihn ein paar Stunden ausruhen ließ und ihm half, wieder zu Kräften zu kommen, während er Gelegenheit hatte zu überlegen, was er machen sollte – das konnte ihm seine Mutter doch wirklich nicht abschlagen. Natürlich würden die Bullen kommen und dort nachihm suchen, aber vielleicht nicht gleich, nicht, während sie hier noch mit dem Durchkämmen des Dickichts beschäftigt waren. Ein schlechter Plan. Das war ihm klar. Aber immerhin besser als gar kein Plan.
    David stützte sich am Kastanienbaum ab, um auf die Beine zu kommen, und warf einen letzten Blick auf die Lichter des Hauses, das versteckt zwischen den Bäumen lag: Osmans Haus, in dem sich Katya befand, tot, eine Kugel im Kopf. Mit einem tiefen Seufzer steckte David die Waffe in den Bund seiner Jeans, stopfte das Bündel Geldscheine tiefer in die Hosentasche und machte sich über die andere Seite des Hügels auf den Weg Richtung Dorf.
    Obwohl der Mond schien, konnte er fast nicht sehen, wo er hintrat, und ein- oder zweimal stolperte er und verlor auf dem unebenen Boden beinahe das Gleichgewicht. Mit jedem Schritt wurde ihm schwindliger, wurden seine Knie weicher, und wenn er aufsah, war ihm, als würden die Sterne über das Firmament jagen, ganz so, wie wenn man durch ein Schwarzweiß-Kaleidoskop blickt. Nachdem er die Straße erreicht hatte, schleppte er sich ein paar Hundert Meter weiter bis zu einer Kreuzung am Ortseingang, wo er im Schatten einer Gartenhecke erschöpft zu Boden sank.
    Beim ersten grauen Licht der Dämmerung wurde er vom Lärm eines Lastwagenmotors unmittelbar neben sich geweckt. Der Fahrer musste kurz anhalten, um den Querverkehr vorbeizulassen, und brauste dann davon. Auf der anderen Seite der Straße konnte David im Licht einer Straßenlaterne den Dorfladen von Blackwater erkennen. Das Schaufenster war voller Lebensmittel – Kekse und Brotlaibe und sogar eine Geburtstagstorte –, und David verspürte auf einmal einen rasenden Hunger. Er hatte seit dem vorigen Abend um sechs nichts mehr gegessen, und dann auch noch relativ wenig. Samstagabends war das Essen im Oxforder Gefängnis noch schlechter als sonst: die Köche hatten Wochenende, und die Häftlinge bekamen die aufgewärmten Sachen vom Vortag.
    David erinnerte sich an den Laden: Zehnmal oder sogar nochöfter war er hier mit dem Bus vorbeigefahren, wenn er sich mit Katya beim Bootshaus verabredet hatte. Damals. Katya und er waren sogar einmal drin gewesen, an einem heißen Sommertag vor mittlerweile über drei Jahren, und hatten in einer Schlange schnatternder Dorfkinder gewartet, die Drops und Eiscreme kaufen wollten. Und Mrs. Parsler war eine kleine Klappleiter hinaufgestiegen und hatte von einem Regal hoch oben ihre eingestaubten Behälter mit Süßigkeiten heruntergeholt. Der Name ihres Mannes stand auf dem Schild über der Tür, und zweifellos lagen die

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