Der König der Diamanten
zuvor. »Und was passierte dann?«, fragte er, indem er wieder die Führung übernahm.
»Von unten kamen laute Geräusche, die dann plötzlich aufhörten. Zur gleichen Zeit kam Franz die Treppe herunter, die bei mir hinten. Wie Sie wissen, führt auf jeder Seite des Hauses eine Treppe vom ersten in den zweiten Stock. Vom Erdgeschoss aus gibt es nur eine nach oben, genau in der Mitte, und über die hörte ich den Eindringling hinunterrennen«, sagte Osman und sahhinüber zu Clayton, der eifrig in sein Notizbuch kritzelte. »Franz hatte eine Waffe bei sich, und so gingen wir hier herunter und entdeckten, dass das Fenster da drüben eingeschlagen war. Anscheinend war Swain nicht mehr da, deshalb überließ ich es Franz, die anderen Zimmer zu durchsuchen, und ging nach oben, wo ich Katya fand. Sie war …« Osmans Stimme versagte, und er bedeckte das Gesicht mit den Händen.
»Was denken Sie: Wie konnte Swain sich zurechtfinden?«, fragte Trave, nachdem er Osman einen Moment gegeben hatte, um sich zu fassen. »War er je zuvor einmal hier?«
»Nicht mit meiner Erlaubnis. Einmal ohne eine solche, aber nicht öfter, soweit ich weiß. Katya hat ihn einmal eingeladen, als ich geschäftlich außer Haus war, und sie hat ihn sogar mit in ihr Schlafzimmer genommen. Ich war sehr verärgert, als mir das zu Ohren kam.«
»Warum?«
»Weil es mein Haus ist. Ich bestimme, was hier gemacht wird«, sagte Osman, als würde er nur das aussprechen, was ohnehin auf der Hand lag.
»Aber warum waren Sie überhaupt so dagegen, dass er ins Haus kam?«, fragte Trave. »Was hat Sie denn an Mr. Swain so sehr gestört?«
Osman schwieg und dachte nach, bevor er etwas erwiderte.
»Meine Nichte hatte seit jeher die Tendenz, sich mit den falschen Leuten einzulassen«, sagte er langsam und wählte die Worte mit Bedacht. »Nach Ethans Tod wurde das schlimmer – sie geriet ja in Oxford ordentlich in Schwierigkeiten –, doch im Grunde gab es das Problem auch schon vorher. Ethans Tod hat mich so tief getroffen, weil ich dachte, Katya hätte endlich jemand gefunden, der zu ihr passt.«
»Aber was brachte Sie zu der Annahme, Mr. Swain würde nicht passen?«, hakte Trave nach.
»Er hatte keine Wurzeln, keinen akademischen Hintergrund. Er lebte von der Hand in den Mund.«
»Und Ethan?«
»Er hatte in Antwerpen studiert und sich ein ordentliches Leben aufgebaut. Seine Eltern waren längst gestorben, und ich wusste auch wie, und seine Großmutter, bei der er aufgewachsen war, ist eine zuverlässige, anständige Person. Ethan hatte eine Zukunft, eine strahlende Zukunft – bis Swain sie ihm zerstört hat. Ich hatte recht gehabt mit Swain, oder nicht? Er entpuppte sich als schlimmer, viel schlimmer, als von mir eingeschätzt: ein kaltblütiger Mörder und nichts anderes. Recht zu haben bringt im Nachhinein natürlich gar nichts. Katya ist tot, und alles, was ich wollte, war, sie zu schützen. Sie war meine letzte Blutsverwandte. Alle anderen sind im Krieg umgekommen. Franz ist der Bruder meiner Frau, also gehören er und Jana schon zur Familie, aber es ist doch nicht das Gleiche.«
»Und doch waren Sie in der Lage, andere Leute vor den Nazis zu retten, oder etwa nicht, Mr. Osman?«, fragte Trave und beugte sich vor. »Leute wie Ethan Mendel und seinen Bruder.«
»Ja, ich hatte Glück: Ich hatte Geld und die nötigen Kontakte, und als dann in Belgien die Deportationen begannen, konnte ich einigen meiner jüdischen Freunde helfen zu entkommen.«
»Aber jeden konnten Sie nicht retten, oder? Sie mussten schon wählen – wem Sie helfen, wen Sie übergehen«, fuhr Trave unnachgiebig fort. »So wie auf dem Gemälde, das Sie da über dem Kamin haben. Es ist aus dem Buch Exodus, nicht? Der Todesengel geht durch die Straßen, vorbei an den Türen derer, die gerettet werden, und übt seine Macht über Leben und Tod aus. Haben Sie das Bild deswegen gekauft, Mr. Osman? Damit Sie sich fühlen können, als wären Sie erneut im Besitz dieser Macht?«
Osman sah einen Moment lang verärgert aus und musste um seine Beherrschung kämpfen. Dann verzog er das Gesicht jedoch zu einem schiefen Lächeln, als hätte er die perfekte Antwort parat.
»Das Bild habe ich hier, weil es mich täglich daran erinnert, wasin meinem Land passiert ist«, sagte er langsam. »Und weil es schön ist, ein echtes Kunstwerk. Ich gehe nicht davon aus, dass Sie dafür Verständnis haben, Inspector, doch Vanessa findet, es ist ein gutes Bild. Erst unlängst hat sie sich lobend darüber
Weitere Kostenlose Bücher