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Der König der Diamanten

Der König der Diamanten

Titel: Der König der Diamanten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Tolkien
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und deshalb fast vollkommen von Bäumen verdeckt.
    Das Bootshaus stand auf Holzpfählen, und darunter kam ein altes Ruderboot zum Vorschein, das man ein Stück weit in den Hohlraum unter der Hütte geschoben hatte. Die Tür darüber war nicht abgeschlossen, und sie traten ein. Ein kleiner Tisch und zwei Stühle standen in der Mitte des Raumes, ansonsten gab es an Möbeln nur ein Regal in der Ecke, dessen Bretter leer waren bis auf ein paar zerfledderte Taschenbücher von Agatha Christie. Es roch vermodert,so als sei lange niemand hier drin gewesen, doch die Glühbirne an der Decke funktionierte, und hinter einer kleinen Trennwand gab es ein Waschbecken und einen kleinen Kühlschrank.
    »Es gibt sogar Telefon«, sagte Trave und griff nach einem Hörer, der neben der Tür aufmontiert war. »Die Leitung ist jetzt tot«, fuhr er fort. »Aber sie funktionierte, als Ethan starb. Claes rief die Polizei und telefonierte auch zum Haus hinauf, während er Swain mit vorgehaltener Waffe in Schach hielt – ganz schön bequem, oder?«
    »Wo war die Leiche?«, fragte Clayton.
    »Hier draußen«, sagte Trave und deutete durch die offene Tür zum See. »Gesicht nach unten und halb im Wasser. Man hatte ihn in den Rücken gestochen, doch der Mörder zog das Messer heraus und warf es in den See, deshalb gab es keine Fingerabdrücke.«
    »Erzählen Sie mir von ihm, also von Ethan«, sagte Clayton, indem er sich auf einen der Stühle setzte und Trave erwartungsvoll ansah. Denn das musste doch der Grund sein, aus dem ihn sein Chef hierhergebracht hatte – um ihm zu berichten, was sich hier zugetragen hatte, ihm die Hintergründe zu schildern. Es war ja auch nicht so, dass ihm das völlig gleichgültig war.
    »Er war vierundzwanzig Jahre alt, als er starb«, sagte Trave. Er blieb an der Tür stehen und sah hinaus in das morgendliche Sonnenlicht, das auf der Seeoberfläche spielte, während er langsam und bedächtig sprach, als würde er weit entfernte Dinge beschreiben. »Er war ein jüdischer Junge aus Antwerpen, was, wie Sie wahrscheinlich wissen, das weltweite Zentrum für Diamanten ist – für Zuschnitt, Schliff, Handel, was auch immer. Und vor dem Krieg hatte es seine Blütezeit. Jeder wollte Diamanten aus Antwerpen. Osman verdiente sich mit dem Handel eine goldene Nase, und soweit ich weiß, machte Ethans Vater auch gute Geschäfte. Die beiden waren befreundet. Aber dann kamen die Nazis und suchten nach den Juden, und Osman begann ihnen zur Flucht zuverhelfen. Über die Grenze in die Schweiz. Und dann, als das zu schwierig wurde, durchs besetzte Vichy-Frankreich rüber nach Spanien. Und von dort per Schiff nach Kuba. Oder weiß Gott wohin. Zweifellos wurde er für seine Bemühungen ordentlich belohnt.«
    »Woher wissen Sie das?«, fragte Clayton misstrauisch.
    »Ich weiß das nicht. Ich vermute es. Sie können ruhig sagen, das ist mein angeborener Zynismus. Jedenfalls konnte Ethan 1942 gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder Jacob und der Großmutter fliehen. Die Eltern blieben zurück. Warum, weiß ich nicht. Als sie sich dann im Jahr darauf aufmachten, flogen sie mit ihren falschen Papieren an der Grenze auf und wurden nach Auschwitz geschickt. Bei Kriegsende waren sie tot.«
    Trave machte eine Pause und bemerkte, dass Clayton sich weggedreht hatte und sich auf die Lippe biss. Er fragte sich, ob Clayton womöglich einen der Filme kannte, die sie alle am Ende des Krieges gesehen hatten, über Auschwitz und Treblinka, Majdanek und Sobibor, diese grauenhaften Orte im Osten. Clayton war jung – er konnte nicht älter als sieben- oder achtundzwanzig sein, dachte Trave –, aber das musste ja nicht heißen, dass er die Filme nicht kannte. Es war ja gerade erst ein paar Monate her, dass die Israelis Adolf Eichmann gefangen hatten, der fröhlich in Argentinien vor sich hin gelebt hatte.
    »Dann ging der Krieg zu Ende, und die beiden Brüder kehrten mit ihrer Großmutter nach Antwerpen zurück«, fuhr Trave fort. »Ethan ging an die Universität und machte einen sehr guten Abschluss, genau wie Osman uns heute Morgen erzählt hat, und irgendwann gegen Ende 1957 hob er sein Geld von der Bank ab, setzte über den Ärmelkanal und ließ sich hier bei seinem Retter Titus Osman nieder. Seinem märchenhaften Patenonkel«, fügte Trave mit einem trockenen Lachen hinzu.
    »Und warum?«
    »Gute Frage. So wie Osman sagt, war Ethan hier, weil er Osmanpersönlich dafür danken wollte, dass er ihm das Leben gerettet hat. Aber das hätte nur einen

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