Der König der Diamanten
auch sie, denn ihr war klargeworden, wie sehr sie mittlerweile von der Kraft und der Selbstsicherheit ihres Geliebten abhängig war. Heute nun kam es ihr vor, als seien ihre Gebete erhört worden: Seine Schritte waren wieder federnd, und seine Augen glänzten wieder. Er schien wieder ganz der Alte zu sein.
»Wenn du da bist, ist alles anders«, sagte er und drückte ihre Hand, als sie die Bäume erreichten und die Gartenanlage hinter sich ließen.
»Das freut mich«, sagte sie. Und sie hätte gern noch mehr gesagt, doch auf einmal fühlte sie sich unsicher. Es war, als stünde seitlich in den Bäumen eine zweite Vanessa, die zusah, wie sie und Titus den Pfad entlanggingen. Sie hoffte inbrünstig, er würde nicht wieder auf den Heiratsantrag zu sprechen kommen oder darauf, wie sie mit Katyas Worten umzugehen gedenke. Sie war aufgewühlt durch den Druck, den Claes vorhin im Haus auf sie auszuüben versuchte, und überhaupt: Im Salon zu sein, hatte sie an Katya erinnert – wie sie vor zehn Tagen plötzlich im Türrahmen auftauchte und dabei von links nach rechts taumelte. Vanessa quälte der Gedanke, dass Katya gewusst hatte, was auf sie zukam, und dass dennoch niemand in der Lage gewesen war, sie davor zu bewahren.
»Wie sehr wünsche ich mir, ich hätte etwas tun können«, sagteTitus, als könne er ihre Gedanken lesen. »Wenn ich nur gewusst hätte, dass …«
»Swain? Aber wie hättest du ahnen können, dass er ausbrechen würde? Gefängnisse sind doch dafür da, dass Leute drinbleiben, nicht dass sie ausbrechen«, sagte Vanessa in dem Versuch, Titus zu beschwichtigen. »Du musst dir nichts vorwerfen.«
»Ich weiß. Trotzdem ist es manchmal schwer«, sagte er, brach dann jedoch ab und schwieg, als der Wald sich vor ihnen öffnete und sie plötzlich am Ufer des Sees standen. Der Nebel war hier dichter. Er verbarg das gegenüberliegende Ufer und nahm eine Schar Gänse in sein grauweißes Nichts auf, kaum dass sie davongeflogen waren – nur ihre heiseren Rufe trug der Wind noch herüber. Vanessa fröstelte, und Titus legte den Arm um sie.
»Blackwater Lake kann an einem Tag wie heute ziemlich schaurig wirken«, sagte er. »Aber bald, in ein oder zwei Stunden, hat der Wind die Wolken weggefegt, und dann kann ich es jedesmal aufs neue kaum glauben, wie schön der See doch ist. Dieser extreme Wechsel erinnert mich an meine Heimat. Ich glaube, deshalb mag ich ihn auch so sehr.«
»Deine Heimat? Du meinst Belgien?«
»Ja. Antwerpen und die Schelde und Flandern – wo ich herkomme, wo ich mein Vermögen gemacht habe.«
»Mit Diamantenhandel?«, fragte Vanessa interessiert. Titus hatte ihr noch nie erzählt, wie er sein Geld verdient hatte. Aus irgendeinem Grund war das Gespräch noch nie darauf gekommen.
»Ja, Diamanten, nur Diamanten. Ich habe mich in sie verliebt, noch bevor ich mit ihnen handeln konnte, und deshalb sind sie auch so gut zu mir gewesen. Ich kann die Augen schließen, und schon bin ich wieder dort, in den Dachkammer-Werkstätten vor dem Krieg, wo die Männer reihenweise auf ihren Schemeln sitzen, in weißen Hemden und schwarzen Jacken, und die Steine spalten, zersägen oder zuschneiden mit einer Präzision, die du dir nicht vorstellen kannst – jeder Einzelne von ihnen ein Künstler. Vielleichtsitze ich auch zwischen den Händlern in der Börse oder im Diamond Club in der Pelikaanstraat. Alle sind tief über die Edelsteine gebeugt, und man sieht nichts außer ihren breitkrempigen Hüten.« Osman lachte, als wolle er damit diese Erinnerung abschütteln.
»Warum gehst du nicht zurück, wenn du es so sehr vermisst?«
»Ich weiß nicht. Weil ich hier ein neues Leben aufgebaut habe. Weil ich so viel Geld habe, dass es mir für den Rest meines Lebens reicht. Weil es dort auch zu viele schlechte Erinnerungen gibt. Zu viele Menschen, die unnötig gestorben sind. Wobei sie jetzt ja auch hier sterben«, fügte Titus mit einem bitteren Lächeln hinzu.
»Komm, lass uns zurückgehen«, fuhr er dann fort. »Dir ist kalt, und der See hat heute keinen besonders guten Tag.«
Sie gingen langsam zurück durch den Wald, ohne zu sprechen. Die Nadeln auf dem Waldboden dämpften ihre Schritte wie ein Teppich, und beide hingen ihren Gedanken nach. Bis zu dem Moment, in dem sie die andere Seite erreichten. Beim Anblick seines Hauses überlief Titus ein Frösteln, und er griff nach Vanessas Hand.
»Gott sei Dank sind wir zusammen«, sagte er. »Ich weiß nicht, was ich ohne dich anfangen würde.«
Vanessa fühlte
Weitere Kostenlose Bücher