Der König der Diamanten
plötzlich Fürsorge und Liebe in sich aufwallen und wandte sich zu Titus, um den Kuss zu empfangen. Doch es kam kein Kuss. Von jenseits des Rasenstücks hörte man einen Wagen schnell, viel zu schnell, die Einfahrt heraufrasen, in halsbrecherischem Tempo in den Hof einfahren und dann scharf abbremsen. Titus rannte über den Rasen. Vanessa folgte ihm und erreichte die Ecke des Hauses in dem Moment, in dem ihr Ehemann anfing, Franz Claes am Fuß der Eingangstreppe anzubrüllen. Weiter hinten stand ein junger Mann, in dem Vanessa den Assistenten ihres Mannes erkannte, Adam Clayton, der neben der offenen Tür von Traves altem Ford stand und aussah, als wüsste er, dass etwas Furchtbares passiert, es aber nicht in seiner Macht lag, das zu verhindern.
»Wo ist Bircher? Sagen Sie es mir auf der Stelle«, schrie Trave. Erwar nicht einmal mehr einen halben Meter von Claes entfernt, der jedoch kerzengerade stehenblieb und keinen Zentimeter zurückwich.
»Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen«, sagte Claes tonlos. Er wirkte eigenartig ruhig, und ein leichtes Lächeln umspielte seine dünnen Lippen. Vanessa war überrascht, wie sehr er die Situation zu genießen schien.
»Sie lügen«, brüllte Trave. »Bircher war der, der Sie mit diesen Knaben zusammengebracht hat, und er ist der, den Sie angeheuert haben, um Swain aus dem Knast zu holen.«
»Knast? Was ist das – Knast?«, fragte Claes mit einem Grinsen. Er artikulierte das Wort voller Hohn. Es war offensichtlich, dass er Trave aus der Reserve locken wollte. Dieser hatte die Fäuste geballt, wohingegen die Hände von Claes in den Hosentaschen steckten. Es fiel Titus nicht schwer, zu erkennen, was jetzt bevorstand, und er fand, dies sei der richtige Zeitpunkt zum Einschreiten.
»Inspector, bitte beruhigen Sie sich. Ich bin sicher, wir können die Sache klären«, sagte er.
Trave drehte sich ruckartig nach links – Osman hatte er noch gar nicht bemerkt. Er machte den Mund auf, um zu sprechen, schloss ihn jedoch wieder, als er hinter ihm seine eigene Frau entdeckte. Sich vorzustellen, wie Titus Osmans Hände Vanessa befingerten, war eine Sache. Die beiden leibhaftig vor sich zu sehen eine andere. Wut stieg in ihm auf und raubte ihm für einen Moment die Sinne. Er machte zwei Schritte nach vorne und schlug so fest er konnte, nach Osman. Doch anstatt wie erhofft auf Wange, Auge und Schädelknochen zu treffen, segelte Traves Hand durch die Luft. Osman hatte sich rechtzeitig geduckt, und als Trave gerade ausholen wollte, um noch einmal zuzuschlagen, kam Clayton von hinten und zog ihn mit sich Richtung Auto. Trave war so überrascht, dass er das Gleichgewicht verlor und mit einem dumpfen Aufprall zu Boden ging.
Auf dem Rücken liegend schaute er hinauf in den farblos-grauenHimmel und schämte sich furchtbar. Er hatte gegen jede Regel verstoßen. Hatte sich vor Vanessa zum Idioten gemacht. Hatte dem Gegner einen Vorteil verschafft. Er konnte spüren, wie sie alle herunterblickten, und schloss die Augen. Ihre Gesichter konnte man sich leicht ausmalen: voller Verachtung und, noch schlimmer, Mitleid, wahrscheinlich auch Triumph. Er wusste, dass er erledigt war, es sei denn, er konnte beweisen, dass es zwischen Blackwater Hall und dem Gefängnisausbruch eine Verbindung gab. Wenn es denn eine gab … Aber Trave weigerte sich, auch nur die Möglichkeit eines Fehlers einzuräumen. Er war sich vollkommen sicher, dass das entscheidende Beweisstück existierte, wenngleich außer Reichweite. Es war falsch gewesen, hierherzufahren – das war alles; er hatte zugelassen, dass der Ärger seinen Verstand ausschaltete. Clayton hatte recht gehabt – vom Gefängnis aus hätten sie zum Revier fahren sollen, nicht hierher. Eddie war der Schlüssel. Das war Trave jetzt sonnenklar. Er könnte Eddie einen Handel anbieten und diesem großspurigen Kotzbrocken so lange auf die Pelle rücken, bis er die Wahrheit sagte. Nur würde er dazu leider keine Gelegenheit mehr haben, nachdem Creswell erfahren hätte, was hier in den letzten beiden Minuten vorgefallen war. Und das war nur eine Frage der Zeit. Osman würde sich beschweren, und Clayton würde Creswell Bericht erstatten müssen, sobald er wieder im Revier war. Es blieb ihm keine andere Wahl. Trave würde an Claytons Stelle dasselbe machen müssen.
Trave wusste, was er zu tun hatte. Er musste von hier verschwinden, Clayton zurücklassen und dann darauf hoffen, dass niemand Creswell an die Strippe kriegte, bevor er nicht mit Eddie gesprochen hatte.
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