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Der König der Lügen

Der König der Lügen

Titel: Der König der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Hart
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Gedanke an den meines Vaters war mir unerträglich. Ich rief das Bestattungsinstitut an. Wenn es dem Bestatter seltsam vorkam, mit mir zu reden, war es seiner Stimme nicht anzuhören. Sie klang flüssig und gemessen, als flösse sie aus einem der Glasbehälter, von denen ich mir immer vorstellte, dass sie im Keller seiner Leichenkammer standen. Keine Sorge, sagte er. Ich bräuchte ihm nur das Datum der Beerdigung zu nennen. Alles andere sei arrangiert.
    »Von wem?«, fragte ich.
    »Von Ihrem Vater. Er hat alles veranlasst.«
    »Wann?«
    Der Bestatter machte eine Pause, als erforderte es sorgsame Überlegung, von den Toten anders als mit stillem Respekt zu sprechen.
    »Vor einiger Zeit«, sagte er.
    »Was ist mit dem Sarg?«
    »Ausgewählt.«
    »Die Grabstelle?«
    »Ausgewählt.«
    »Grabrede? Musik? Stein?«
    »Alles von Ihrem Vater bestimmt«, sagte der Bestatter. »Er war, das kann ich Ihnen versichern, sehr gründlich in seinen Vorbereitungen.« Wieder machte er eine Pause. »In jeder Hinsicht der perfekte Gentleman und der perfekte Kunde. Er hat keine Kosten gescheut.«
    »Nein. Wohl nicht.«
    »Kann ich Ihnen in dieser schweren Zeit noch irgendwie behilflich sein?«
    Er hatte diese Frage schon so oft gestellt, dass ich die Unaufrichtigkeit selbst am Telefon spürte.
    »Nein«, sagte ich. »Nein, vielen Dank.«
    Seine Stimme wurde tiefer. »Darf ich dann vorschlagen, dass Sie mich noch einmal anrufen? Wenn alles geklärt ist? Ich muss nur wissen, welches Datum Sie sich für das Begräbnis wünschen.«
    »Gut«, sagte ich. »Das werde ich tun.« Beinahe hätte ich aufgelegt, aber dann stellte ich die Frage, die seit einer Minute in meinem Hinterkopf rumorte. »Wen hat mein Vater als Grabredner bestimmt?«
    Der Bestatter schien überrascht zu sein. »Na ja, Sie natürlich.«
    »Natürlich«, sagte ich. »Wen sonst.«
    »Haben Sie sonst noch einen Wunsch?«
    »Nein. Vielen Dank.«
    Ich legte auf und blieb still sitzen. Konnte ich seine Grabrede halten? Vielleicht. Aber konnte ich sagen, was er wollte? Als Ezra diese Entscheidung getroffen hatte, war ich ein anderer Mensch gewesen, sein Äffchen, das Behältnis seiner Wahrheit. Durch meine Worte würde er noch einmal aufleben, und zwar so, dass alle Anwesenden sich demütig daran erinnern würden. Deshalb hatte er mich dazu bestimmt — weil er mich gemacht hatte und weil er sich seiner Kunst sicher war. Dennoch waren meine Worte nur Worte, und Erinnerungen trüben sich mit der Zeit. Darum hatte er die Ezra Pickens Foundation begründet, in der sein Name ewig weiterleben würde. Aber selbst das war nicht genug: Das Fünfzehn-Millionen-Dollar-Schmiergeld sollte sicherstellen, dass ich seine großartige Tradition weiterführte.
    Gern hätte ich ihm die Arme um den Hals geworfen und ihm gesagt, dass ich ihn in einem kleinen Winkel meines Herzens immer lieben würde, und ihn dann halb tot geschlagen. Denn was ist der Preis der Eitelkeit, wie teuer ist die Unsterblichkeit? Ein Name ist ein Name, ob er in Fleisch geritzt oder in Marmor gemeißelt wird; man kann sich auf vielerlei Arten an ihn erinnern, und nicht jede ist gut. Alles, was wir uns gewünscht hatten, war ein Vater. Jemand, dem etwas an uns lag.
    Ich ließ den Kopf auf den Tisch sinken, auf das kühle, harte Holz. Ich schmiegte die Wange daran und breitete die Hände darauf aus. Es erinnerte mich an die Highschool. Ich schloss die Augen, und es roch nach Radiergummi, wie versengt, und das Büro schmolz dahin. Ich war in der Vergangenheit.
    Es war unser erstes Mal; ich war fünfzehn, und Vanessa war im letzten Schuljahr. Der Regen trommelte auf das Blechdach, aber in der Scheune der Stolen Farm war es trocken, und Vanessas Haut schimmerte blass im frühen Dämmerlicht. Blitze ließen die Welt draußen hell erstrahlen und schlossen uns in unserer Abgeschiedenheit ein. Wir waren Forschungsreisende, und wenn der Donner dröhnte, tat er es für uns, jedes Mal lauter und im Takt unserer Körper. Unter uns, in den Boxen, die nach Stroh rochen, stampften die Pferde mit den Hufen, als wüssten und billigten sie, was wir taten. Ich konnte sie jetzt noch riechen. Ich hörte ihre Stimme.
    Liebst du mich?
    Das weißt du doch.
    Sag's.
    Ich liebe dich.
    Sag's noch mal. Sag's immer wieder.
    Und ich tat es — vier Silben, ein Rhythmus wie der Rhythmus unserer Körper. Dann drang ihre Stimme an mein Ohr. Leise sprach sie meinen Namen, Jackson, wieder und wieder, bis sie mich ausfüllte. Ein Geist.
    Und dann war sie lauter.
    Ich

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