Der König der Lügen
überlegt.«
»Na, an Ihrer Stelle würde ich es nicht tun. Wenn Sie nachts um drei auf Straßen mit grauen Schildern rumfahren, kann es leicht passieren, dass einer auf Sie schießt.«
Ich dankte ihm und wandte mich ab. »Hey, Mister.«
»Ja?«
»Erschrecken Sie nicht.« Ich wartete, dass er weitersprach. »Sie ist beschissen hässlich.«
So dringend ich mit Rhonda Temple, Mutter von Virginia Temple alias Alex Shiften, sprechen wollte, ich sah doch ein, dass der Kassierer nicht unrecht hatte. Ich trank meinen Kaffee im Wagen und überlegte, wie ich es angehen sollte. Ich dachte an Dr. Stokes und seine Ansichten über Glauben, Hölle und die Möglichkeit der Erlösung. Irgendwann döste ich ein.
Ich fand die Trinity Lane ein paar Minuten vor sieben — genau da, wo sie sein sollte, auch wenn ich sie fast übersehen hätte. Irgendwann war ein Auto gegen das Schild gefahren, und jetzt lehnte es schief, geknickt und fast verborgen im Gebüsch am Rand der zweispurigen Landstraße. Trinity Lane selbst war ein zerfurchter Feldweg, ein Schnitt quer durch das Waldgelände. Er verschwand vor mir in einer Kurve, eine zwielichtige Allee im matten Morgenlicht. Als ich tiefer in den Wald hineinfuhr, kam ich an verlassenen Trailern vorbei. Manche waren ausgebrannt, andere einfach heruntergekommen und aufgegeben. An vielen Stellen war die Außenverkleidung abgerissen, und die Glasfaserisolierung hing herunter. Rostige Hausgeräte verschmolzen langsam mit dem unkrautüberwucherten roten Lehmboden. Es war eine trostlose Gegend.
Der Weg endete nach fünfhundert Metern vor der hinteren Stoßstange eines zwanzig Jahre alten Dodge Omni. Er parkte auf der nackten Erde vor dem letzten Trailer, einem einfachen Wohnwagen, neben dem eine Satellitenschüssel stand. Müde stieg ich aus. Hinter dem Trailer lag ein Abfallhaufen, dort, wo das Gelände zum Fluss hin abfiel. An einer Wäscheleine hingen ein paar Kleidungsstücke. Hinter einem der Fenster brannte Licht.
Ich klopfte an die Aluminiumtür.
Die Frau, die mir öffnete, war ohne Zweifel die, die ich suchte. Ihr Gesicht und ihre Hände waren voller Narben, nicht nur von dem Feuer, sondern auch von der Fensterscheibe, durch die sie sich gestürzt hatte, um den Flammen zu entkommen. Die rechte Gesichtshälfte, von der Nase bis zum Ohr, war ein zerklüfteter Alptraum, und lange Narben, wulstig und weiß, zogen sich im Zickzack durch ihr Gesicht. Sie hatte wirres graues Haar und eine dicke Brille mit einem pinkfarbenen Gestell, und sie hielt eine Zigarette mit einem Plastikmundstück in der Hand.
»Wer zum Teufel sind Sie?«, fragte sie. »Und was suchen Sie so scheißfrüh am Morgen an meiner Scheiß-Haustür?«
»Ma'am, ich heiße Work Pickens. Ich komme aus Salisbury. Es tut mir leid, dass ich Sie so früh belästige, aber ich muss unbedingt mit Ihnen über Ihre Tochter sprechen.«
»Wieso zum Teufel sollte ich mit Ihnen sprechen?«
»Darauf weiß ich ehrlich keine Antwort. Sie kennen mich nicht, und Sie schulden mir nichts. Ich bitte Sie nur darum.«
»Sie wollen über meine Tochter reden? Sind Sie ein Bulle oder ein Reporter oder was?« Sie musterte mich von Kopf bis Fuß. »Nein, nichts davon.«
»Was sind Sie dann?«
Ich überging ihre Frage. »Virginia Temple. Sie ist Ihre Tochter, ja?«
Sie zog an dem Plastikmundstück und betrachtete mich mit Reptilienaugen. »Sie ist aus mir rausgekrochen, wenn Sie das meinen. Aber meine Tochter ist sie nicht.«
»Ich verstehe nicht.«
»Das Mädchen war verdorben, als es zehn war. Sie war schon damals nicht mehr mein Baby. Aber als sie mir das antat, als sie Feuer legte und meinen Schatz Alex umbrachte, na, da war für mich klar, dass sie nicht mehr mein Kind war. Da nicht, und nie mehr.«
Ich konnte nicht anders, ich musste auf ihre Narben schauen und daran denken, wie es gewesen sein musste, inmitten der Flammen aufzuwachen. »Es tut mir leid wegen Ihres Mannes.«
»Sind Sie blöd?«, fragte sie. »Dieses wertlose Stück Scheiße interessiert mich nicht. Der hat gekriegt, was er verdient hat, und seit er tot ist, bin ich besser dran. Ich rede von Alex.«
»Alex? Ich verstehe nicht.«
»Alex war das einzig Gute in meinem Leben.«
Verwirrt stand ich da. »Ma'am ...«
»Verdammt. Alex war meine andere Tochter, mein Baby. Sie war sieben, als es passierte. Dieses Dreckstück Virginia hat sie auch umgebracht. Wussten Sie das etwa nicht?«
DREISSIG
N ach diesem Ausbruch gingen bei Rhonda Temple die Läden herunter. Sie sagte
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