Der König der Lügen
gewusst?«, fragte ich noch einmal.
Jean seufzte. »Virginia Temple. Das ist ihr richtiger Name. Sie hat ihn geändert, als sie entlassen wurde.«
»Weißt du, dass sie ihren Vater umgebracht hat?«
»Das weiß ich.«
»Das weißt du auch?« Ich konnte es nicht fassen. »Weißt du, wie sie ihn umgebracht hat?«
Jean nickte, aber ich konnte nicht aufhören. Das Grauen war noch zu frisch in meinen Gedanken. Gekochtes Fleisch. Eine verkohlte Lunge. Alex, die zusah, und ihre Mutter, vom Fensterglas zerfetzt. »Sie hat ihn mit Handschellen ans Bett gefesselt und das Bett angezündet. Sie hat ihn bei lebendigem Leib verbrannt, Jean. Um Himmels willen, sie hat ihn bei lebendigem Leib verbrannt!«
Ich war plötzlich aufgesprungen. Jean krümmte sich vor mir noch weiter zusammen, umschlang ihre Knie, presste sie an die Brust und wand sich, und ich sah, dass der Schlauch der Kochsalzinfusion einen Knick bekommen hatte. Dieser Anblick beruhigte mich und zwang mich, meine rasenden Gefühle in den Griff zu bekommen. Ich wusste, dass ich die Kontrolle verlor. Das alles war zu viel. Ich atmete tief durch und beugte mich hinüber, um den Knick zu glätten, aber als meine Hand ihren Arm streifte, zuckte sie zusammen.
»Es tut mir leid, Jean. Es tut mir wirklich leid.« Sie verweigerte die Antwort. Ihr ganzer Körper bäumte sich auf, als sie einen mächtigen Atemzug tat. Ich tastete nach dem Stuhl und ließ mich darauf fallen. Ich vergrub das Gesicht in den Händen, presste meine Augäpfel, bis ich Funken sah. Aber abgesehen vom feuchten Rasseln ihres Atems war es still im Zimmer. Ich nahm die Hände weg und schaute zu Jean. Sie war immer noch zu einer Kugel zusammengekrümmt.
»Es macht mir Angst, Jean. Es macht mir Angst, dass sie ihren Vater ermordet hat, und es macht mir Angst, dass sie so viel Macht über dich hat.« Ich zögerte und suchte nach besseren Worten. »Es macht mir einfach Angst.«
Jean reagierte nicht. Lange beobachtete ich sie schweigend. Es dauerte ein paar Minuten, dann überkam mich der Drang, mich zu bewegen, etwas zu tun. Ich stand auf und ging zum Fenster. Ich zog den Vorhang auf und schaute zum Parkdeck hinüber. Ein Wagen fuhr hinein und schaltete die Scheinwerfer ein.
Als Jean sprach, konnte ich sie kaum hören.
»Sie hatte einen Pool. Als sie klein war, hatte sie einen Pool.«
Ich ging zum Bett zurück. Sie drehte den Kopf vom Kissen, das nass von ihren Tränen war. »Einen Pool«, wiederholte ich, damit sie wusste, dass ich da war und ihr zuhören wollte. Ich setzte mich. Ihre Augen waren groß und wund; ich konnte sie kurz sehen, dann drehte sie das Gesicht zur Wand. Ich schaute auf ihren Hinterkopf und wartete darauf, dass sie weitersprach. Schließlich tat sie es.
»Es war eins von diesen aufstellbaren Schwimmbecken, über die wir uns als Kinder immer lustig gemacht haben. Ein Armeleutebecken. Ihr war es egal, dass es billig und kipplig war. Es war ihr egal, dass es hinter einem Wohnwagen stand und dass es von der Straße aus zu sehen war. Sie war ein Kind, weißt du. Und es war ein Pool.« Jean schwieg kurz. »Es war das Beste, was ihr je passiert war.«
Ich sah es vor mir, als wäre ich dort. Und doch spürte ich schon jetzt die Wahrheit. Es lag an der Art, wie sie es sagte. Der Pool war nicht das Beste, was ihr je passiert war. Ganz und gar nicht.
Jean erzählte weiter. »Als sie sieben wurde, führte ihr Vater die neuen Pool-Regeln ein. Genau so drückte er sich aus. >Wir werde neue Pool-Regeln einführen.< Es sollte wie ein Witz klingen, aber das war ihr egal: Wenn sie sich am Pool aufhielt, sollte sie hohe Absätze und Make-up tragen. Das war die neue Regel.« Sie schwieg, und ich hörte, wie sie die Luft zwischen den Zähnen einsog. »So fing es an.«
Ich wusste, worauf es hinauslief, und mein Innerstes zog sich voller Abscheu zusammen. Hank hatte recht gehabt.
»Die Regel galt nicht für ihre Mutter. Nur für sie. Sie hat mir mal erzählt, dass ihre Mutter danach nicht mehr an den Pool kam. Sie unternahm nichts dagegen, sie wollte es nur nicht sehen. Ihr Vater war in dem Jahr arbeitslos, und deshalb taten sie nichts anderes. Sie hingen am Schwimmbecken herum. In dem Sommer, nehme ich an, hat es ihm genügt. Zuzusehen, meine ich.
Aber zwei Wochen, nachdem sie den Pool für den Winter abmontiert hatten, fing es an.«
Ich wollte es nicht hören. Ich wollte, dass sie aufhörte. Aber ich musste es hören, und sie musste es erzählen. Wir suchten einen Weg.
»Er hat sie nicht nur
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