Der König der Lügen
dass ich dafür büße.«
Jean richtete sich auf ihrer Matratze auf, ein grauer, zitternder Schatten ihrer selbst. Die Decke rutschte herunter, und Jean schwankte auf dem schmalen Bett. Ich fürchtete, sie würde herunterfallen und mit dem Schädel auf den harten Boden schlagen. Sie stieß mit dem Finger gegen mich, und ich sah die Verweigerung in ihrem Blick. Ich war zu brutal, zu schnell vorgegangen.
Ich hatte sie verloren.
»Raus!«, schrie sie und brach in Tränen aus. »Raus! Verschwinde hier, du dreckiger Lügner!«
EINUNDDREISSIG
I ch flüchtete aus dem Zimmer, weil mir nichts anderes übrig blieb. Jean war außer sich; ich hatte sie an einen gefährlichen Abgrund getrieben. Sie hatte nur zwei Dinge auf dieser Welt: Alex und mich. Aber in diesem Augenblick war Alex die Einzige, auf die es ihr ankam, und ich hatte versucht, sie ihr wegzunehmen.
Zumindest kannte ich endlich die Wahrheit. Jean hatte Ezra nicht umgebracht. Sie war keine Mörderin, und ohne eine solche Last auf ihrem Gewissen würde sie es vielleicht irgendwann schaffen, den Sturzflug zu beenden, der sie in dieses Krankenhaus gebracht hatte. Die Alternativen konnten jedoch gleichermaßen verheerend sein. Jemand würde für den Mord an Ezra zur Rechenschaft gezogen werden, und wie es jetzt aussah, wäre es entweder Alex oder ich. Würde Jean diese oder jene Möglichkeit verkraften? Sie würde es müssen. Ganz einfach.
Für mich hatte sich die Situation dramatisch verändert. Vielleicht wäre ich bereit gewesen, für Jean den Kopf hinzuhalten, aber nicht für Alex. Nie im Leben.
Ich lehnte mich an die Wand. Sie fühlte sich hart und kalt an meinem Rücken an, und ich schloss die Augen. Mir war, als hörte ich Jean weinen, doch dann war es still. Einbildung, sagte ich mir. Dein schlechtes Gewissen.
Als ich die Augen öffnete, stand eine Krankenschwester vor mir. Sie sah mich besorgt an.
»Alles in Ordnung?« Ihre Frage überraschte mich.
»Ja.«
Sie musterte mich. »Sie sind blass wie ein Laken, wie ein wandelnder Toter.«
»Mir fehlt nichts. Ich bin nur müde.«
»Ich werde nicht mit Ihnen streiten«, sagte sie. »Aber wenn Sie kein Patient sind, müssen Sie wieder gehen. Besuchszeit ist erst in einer Stunde.«
»Danke«, sagte ich und ging. Als ich mich umschaute, sah sie mir verwundert nach. Fast konnte ich ihre Gedanken lesen. Kenne ich Sie nicht irgendwoher?, dachte sie. Dann wandte sie sich ab.
Ich ging den Flur hinunter zu den Aufzügen und dachte über Alex nach. Ich war kein Psychiater und konnte deshalb über ihren Geisteszustand nur Vermutungen anstellen, aber er musste katastrophal sein. Warum die Namensänderung? Ich konnte verstehen, dass sie ihrer Kindheit entrinnen wollte, doch warum nahm sie den Namen ihrer Schwester an? Weil die unberührt und unverdorben gestorben war, geläutert durch ihre Unschuld und durch die Flammen, die sie getötet hatten? Oder waren es Schuldbewusstsein und der Wunsch, sie wenigstens noch ein bisschen weiterleben zu lassen? Wahrscheinlich würde ich es nie erfahren. Eins war allerdings kristallklar, und das war es, was mir Angst machte. Alex Shiften war von inbrünstiger Loyalität, und sie würde drastische Maßnahmen ergreifen, um alles im Keim zu ersticken, was sie als Bedrohung gegen sich, gegen Jean oder gegen ihre Beziehung wahrnahm. Sie hatte ihren Vater umgebracht, um ihre Schwester zu schützen. Sie hatte Ezra umgebracht, um ihre Beziehung zu Jean zu schützen. Jetzt war ich die Bedrohung, und sie schob mir den Mord in die Schuhe. Sie hatte Jean gegen mich eingenommen. Sie hatte mein Alibi untergraben, sich irgendwie eine Kopie des Testaments beschafft und sie in meinem Haus hinterlegt.
Plötzlich erstarrte ich, gelähmt von einem Gedanken, der mir unverhofft, aber mit entsetzlicher Klarheit in den Sinn kam. Alex hatte mein Alibi ins Wanken gebracht. Sie wusste, dass ich nicht bei Barbara zu Hause gewesen war, als Ezra erschossen wurde.
Wusste sie auch, wo ich stattdessen gewesen war? Wusste sie von Vanessa? 0 Gott! Wusste sie, dass Vanessa mir ein Alibi geben konnte? Vanessa war verschwunden.
Sie ist gestern Abend nicht nach Hause gekommen.
Ich konnte den Gedanken nicht zu Ende bringen. Aber ich musste. Es war keine Zeit mehr, aus Angst die Augen zu verschließen. Also stellte ich mir die Frage. Wenn Alex wüsste, dass Vanessa ihre Pläne durchkreuzen konnte, würde sie sie umbringen? Die Antwort war eindeutig.
Unbedingt.
Die Aufzugtür öffnete sich. Ich drängte mich durch
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