Der König der Lügen
»Sie hat sich weit entfernt, und ich weiß nicht, ob ich sie zurückholen kann.« Ich erzählte von meinem Zusammenstoß mit Alex und von Jean auf der Veranda. »Sie hat mich verlassen, Vanessa. Ich kenne sie nicht mehr. Ich glaube, sie ist in Schwierigkeiten, aber sie lässt sich nicht von mir helfen.«
»Es ist nie zu spät. Für nichts. Du musst nur die Hand nach ihr ausstrecken.«
»Das habe ich getan«, sagte ich.
»Vielleicht glaubst du nur, du hast es getan.«
»Ich sage dir, ich habe es getan.«
Ich fühlte die Wucht meiner Worte, als sie über meine Lippen kamen, und ich wusste nicht, woher mein Zorn kam. Sprachen wir über Jean oder über Vanessa? Sie setzte sich mit gekreuzten Beinen auf und schaute mich an.
»Immer mit der Ruhe, Jackson«, sagte sie. »Wir unterhalten uns doch nur.« Vanessa hatte mich niemals Work genannt. Sie redete mich mit meinem Vornamen an, und das hatte sie schon immer getan. Ich hatte sie einmal nach dem Grund gefragt, und sie hatte gesagt, ich sei keine »Arbeit« für sie. Das sei klug formuliert, hatte ich gesagt, und ungefähr das Netteste, was ich je gehört hätte. Ich konnte mich immer noch erinnern, wie sie da ausgesehen hatte. Das Sonnenlicht flutete durch das offene Fenster herein, und zum ersten Mal fiel mir auf, dass sie nicht mehr das junge Mädchen war, das ich einmal gekannt hatte. Die Zeit und harte Arbeit hatten ihre Spuren hinterlassen. Aber das kümmerte mich nicht.
»Du hast recht, wir unterhalten uns nur. Wie geht's dir denn so?«
Ihr Gesicht wurde sanfter. »Ich arbeite jetzt ökologisch«, sagte sie. »Verlagere meine Produktion mehr und mehr in diese Richtung. Erdbeeren, Blaubeeren, alles Mögliche. Heutzutage stehen die Leute drauf. Es lohnt sich.«
»Also geht's dir gut?«, fragte ich.
Sie lachte. »Verdammt, nein. Die Bank ist immer noch jeden Monat hinter mir her, aber mit dieser Öko-Geschichte habe ich die Kurve gekriegt. Es wird anders werden. Diese Farm werde ich nicht aus der Hand geben, das verspreche ich dir.« Sie erzählte ein bisschen mehr über ökologischen Anbau, von ihrem alten Traktor und dem Laster, der ein neues Getriebe brauchte. Sie erzählte von ihren Plänen, und ich hörte zu. Irgendwann stand sie auf und holte zwei Bier aus der Küche.
Für mich war Vanessa wie die frische Luft. Sie ging mit den Jahreszeiten und berührte jeden Tag die lebendige Erde. Wann es regnete, wusste ich auch, aber erst, wenn ich nass wurde.
»Weißt du, die Zeit ist ein verdammt verrücktes Ding«, sagte sie und reichte mir das Bier. Sie setzte sich wieder auf das Bett und zog sich ein Kissen auf den Schoß. Eine Haarsträhne hing ihr über das linke Auge. Ich fragte sie, was sie damit meinte. »Ich dachte an unsere Familien«, sagte sie. »An Aufstieg und Fall.«
»Was ist damit?« Ich trank einen Schluck Bier.
»Es ist verrückt, weiter nichts. Ich meine, denk doch mal drüber nach. Wo war deine Familie am Ende des Bürgerkriegs?«
Sie wusste genau, wo meine Familie gewesen war; wir hatten schon oft darüber geredet. Mein Vorfahr vor fünf Generationen war ein Infanterist aus Pennsylvania gewesen, der das Pech gehabt hatte, dass ihm der größte Teil des Fußes abgeschossen worden war. Er geriet in Gefangenschaft und kam in das Konföderiertengefängnis nach Salisbury, wo er noch ein paar Wochen durchhielt, bevor er an Ruhr und Sepsis starb. Er wurde in einem der vier Massengräber bestattet, in dem schließlich über elftausend Nordstaatensoldaten landeten. Das war gegen Ende des Krieges. Seine Frau war schwanger, als sie von seinem Tod erfuhr, und reiste nach Salisbury. Aber er hatte keinen Grabstein; seine Gebeine waren verloren unter den vielen tausend anderen namenlosen Seelen. Es heißt, das habe ihr das Herz gebrochen. Sie gab ihren letzten Dollar dem Arzt, der meinen Ururgroßvater auf die Welt holte, und starb zwei Wochen später. Ich habe oft an diese Urahnin gedacht und mich gefragt, ob mit ihrem Tod der letzte Rest von wahrer Leidenschaft aus unserer Familie verschwunden war.
Sie starb an gebrochenem Herzen. Mein Gott. Was für eine Geschichte.
Ihr Sohn wurde im County herumgereicht und verbrachte den größten Teil seines Lebens damit, auf den Pflanzungen anderer Mist zu schaufeln. Mein Urgroßvater lieferte im Sommer Eis aus und versorgte im Winter die Öfen der Reichen. Sein Sohn war ein nichtsnutziger Säufer, der meinen Vater zum Spaß verprügelte. Die Pickens waren bettelarm und wurden im County wie Dreck behandelt,
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