Der König der Lügen
bevor er umgebracht wurde?
»Bei der Leiche waren keine Schlüssel«, sagte Mills.
»Irgendeine Spur von seinem Wagen?« , fragte ich, um sie abzulenken. Ich wollte nicht über die Schlüssel reden. Nicht, solange ich nicht wusste, was das alles zu bedeuten hatte. Warum hätte Ezra ins Büro fahren sollen? Ich dachte an seinen verschwundenen Revolver, und ich dachte an seinen Safe. Er musste geöffnet werden.
»Darüber kann ich nicht sprechen. Haben Sie danach noch einmal von ihm gehört?
»Nein.«
»Anrufe? Briefe?«
»Nichts.«
»Warum haben Sie ihn nicht als vermisst gemeldet?«
»Habe ich doch.«
»Sechs Wochen später«, erinnerte sie mich. »Eine lange Zeit. Das lässt mir keine Ruhe.«
»Wir nahmen an, er habe sich irgendwohin zurückgezogen, um zu trauern. Weit weg von allem. Er ist ein erwachsener Mann.«
»War ein erwachsener Mann.«
»Worauf wollen Sie hinaus?«
»Ich will darauf hinaus, dass er nicht einmal bei der Beerdigung war, und Sie haben trotzdem keine Vermisstenanzeige erstattet. Das ist einfach verdächtig. Es gibt kein anderes Wort dafür.«
Wie sollte ich das erklären? Mein Vater war nicht bei der Beerdigung, weil er sie umgebracht hatte. Er hatte sie die Treppe hinuntergestoßen und ihr den Hals gebrochen! Ich hatte angenommen, dass seine Schuld ihn erdrückte. Dass er Jean und mir lieber nicht mit leeren Worten und Krokodilstränen gegenübertreten wollte. Denn nicht einmal Ezra konnte etwas daran beschönigen, dass er einen wunderbaren Menschen getötet hatte.
Ich hatte angenommen, er sei besinnungslos betrunken oder liege am Fuß einer hohen Brücke. Für mich ergab das Sinn. Eine Menge Sinn.
»Wenn Leute trauern, tun sie manchmal merkwürdige Dinge«, sagte ich.
Mills sah mich vielsagend an. »Das sage ich mir auch immer wieder. Wenn Sie wissen, was ich meine.«
Ich wusste nicht, was sie meinte, aber ihr Gesichtsausdruck half mir beim Raten. Sie hätte mich immer noch gern als Täter gehabt. Das war gut für Jean, und deshalb war es gut für mich. Aber ich konnte nicht ins Gefängnis. Ich würde sterben, bevor ich mich lebenslänglich einsperren ließ. Doch so weit würde es nicht kommen; das sagte ich mir immer wieder. Es musste einen Ausweg geben.
»Ich schätze, damit sind wir bei der großen Frage«, sagte Mills. Wir waren wieder am Park. Sie bog in die Nebenstraße ein, die am Teich entlangführte, und hielt an. Ich konnte mein Haus sehen, und ich verstand den Hinweis: Du bist noch nicht heil zu Hause. Das wollte sie mir zu verstehen geben. Noch lange nicht.
Der Motor kühlte tickend ab. Ich fühlte ihren Blick auf mir. Sie wollte mich ansehen, sich auf mich konzentrieren. Die Sonne heizte den Wagen auf; es wurde stickig, und ich sehnte mich nach einer Zigarette. Ich schaute ihr in die Augen, so fest es ging. »Wo war ich in der fraglichen Nacht?«, sagte ich.
»Überzeugen Sie mich«, antwortete sie.
Zeit für eine Entscheidung. Ich hatte ein Alibi. Vanessa würde es unter allen Umständen bestätigen. Diese Erkenntnis durchströmte mich wie kühles Wasser. Vor dem Hintergrund von Gerichtsverfahren, Verurteilung und Gefängnis war es das Wertvollste auf der Welt. Jeder in die Enge getriebene Verbrecher würde töten, um es zu bekommen. Aber wollte ich es haben? Die Antwort war: Ja. Ich wollte es haben — so sehr, dass ich es schmecken konnte. Ich wollte Mills' vernichtenden Blick von mir abwenden. Ich wollte in meinem eigenen Bett schlafen und sicher sein, dass ich niemals das Luder für einen anderen Gefangenen würde spielen müssen. Ich wollte ihr mein Alibi wie ein Geschenk überreichen. In hübschem Papier und mit einer großen Schleife.
Aber ich konnte es nicht. Nicht, solange Jean nicht aus dem Schneider war. Wenn ich außer Verdacht wäre, würde sich Mills ihr zuwenden. Sie brauchte nur tief genug zu graben, dann würde sie ein Motiv finden, um Jean für die Tat zur Rechenschaft zu ziehen, sei es der Tod unserer Mutter, Ezras Testament oder lebenslange, übermächtige Misshandlungen. Nach allem, was ich wusste, würde Jean für Alex einen Mord begehen. Und wenn ich an diesen Abend zurückdachte, wie ich es so oft getan hatte, wusste ich, dass sie es getan haben konnte. Es stand ihr ins Gesicht geschrieben — die Wut über den Tod ihrer Mutter, der Schmerz über einen so abgrundtiefen Verrat. Ezra war gegangen, und sie kurz darauf auch. Sie hätte ihm mühelos folgen können. Und wie wir alle hatte sie gewusst, wo er den Revolver aufbewahrte. Motiv,
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