Der König der Lügen
die Treppe und blieb stehen. Ihr Lächeln wurde spöttisch, als sie das Messer zuklappte und einsteckte, als wollte sie sagen, sie brauche es nicht, um mit mir fertig zu werden. Sie lehnte sich an den Verandapfosten, und mich überkam ein überwältigendes Déjà-vu-Gefühl. »Ich muss mit Jean sprechen«, sagte ich.
»Sie müssen immer mit Jean sprechen.«
»Ist sie hier? Es ist wichtig.«
»Ist weg«, sagte Alex.
»Arbeiten?«
Alex zuckte die Achseln und schaute weg. Rauch wehte um ihren Kopf.
»Verdammt, Alex! Ist sie auf der Arbeit?«
Sie starrte auf mich herab und streckte langsam den Mittelfinger hoch. Ein undeutliches Geräusch drang aus meiner Kehle, und ich stürmte an ihr vorbei ins Haus. Sie kam mir nicht nach, was mich überraschte; ich hatte Widerstand erwartet.
Die Fliegentür schlug hinter mir zu, und ich stand im Halbdunkel und atmete muffige Luft, die nach Kohl roch. Alex' Stimme folgte mir. »Suchen Sie, so viel Sie wollen. Das wird nichts ändern. Jean ist nicht hier, und sie kann Sie nicht gebrauchen. Also sehen Sie sich noch ein letztes Mal um, und dann machen Sie, dass Sie wegkommen.«
Die Zimmer waren klein und niedrig, die Möbel alt und schäbig. Der Boden unter meinen Füßen gab nach, und das Licht streckte seine Finger durch verstaubte Fenster und spielte über meine Schuhe und den dünnen grünen Teppich. Auf dem Fernseher sah ich ein gerahmtes Foto meiner Mutter. Ich ging weiter in die Küche, ohne lange nach einem von mir oder Ezra zu suchen. Auf der Abtropfplatte stapelten sich Töpfe zum Trocknen, und an dem schmalen Tisch unter dem Fenster waren zwei Plätze gedeckt; der Blick ging hinaus in den Garten und auf die Gleise, die schnurgerade in die Ferne führten.
Ich rief Jeans Namen, aber ich wusste schon, dass Alex die Wahrheit gesagt hatte; ich wusste nur zu gut, wie sich ein leeres Haus anfühlte. Ohne große Hoffnung warf ich einen Blick in das Schlafzimmer und sah ein sauber gemachtes Einzelbett. Ich sah den Stapel Kataloge auf dem Nachttisch daneben, den aufgeschlagenen Roman, der mit den Seiten nach unten daneben lag, und das Wasserglas auf dem Untersetzer. Ich dachte daran, wie ich abends an Jeans Bett gesessen und über kindliche Themen geplaudert hatte. Schon damals hatte sie Untersetzer benutzt. Sie meinte, Holz müsse man beschützen, genau wie Menschen. Jetzt wusste ich, dass sie damals mehr von sich selbst als von ihrem Nachttisch gesprochen hatte. Ich hatte es nicht verstanden — damals nicht.
Plötzlich fehlte sie mir. Nicht der Gedanke an sie, sondern die Vertrautheit, die wir damals miteinander geteilt hatten, in einer kleineren Welt, in der es einfacher gewesen war, einander Geheimnisse anzuvertrauen. Ich legte die Finger auf den Nachttisch, sah mich im Zimmer um und fragte mich, ob sie hier zusammen lachten und ob es Freude gab in ihrem Leben. Ich hoffte es, aber ich hatte meine Zweifel. Alex ging es nur um Herrschaft. Und Jean — sie wollte Anleitung, brauchte sie verzweifelt und würde sie von jedem annehmen, der sie ihr gab.
Ich suchte nach irgendeiner Spur unserer gemeinsamen Vergangenheit, nach einem Hinweis darauf, dass sie an jene Zeiten dachte oder sie wenigstens irgendwie vermisste, aber da war nichts. Mein Blick wanderte über die kahlen Wände und das Bücherregal zurück zum Bett. Ich wandte mich zum Gehen, als ein Zug vorbeifuhr, so nah, dass das Haus erzitterte. Er schrie seinen trauervollen Schrei und war vorüber, verschwand in der Ferne wie meine Kindheitserinnerungen.
Ich war fast an der Tür, als ich es registrierte. Ich blieb stehen, drehte mich um und ging zu dem hohen, schmalen Bücherregal in der Ecke. Ich sank in die Hocke, und meine Kniegelenke knackten wie bei einem alten Mann. Am Rand des untersten Bords, beinahe wie versteckt, klemmte ein zerfleddertes Exemplar von Der Hobbit, mein Geschenk für Jean zu ihrem neunten Geburtstag. Das Cover war zerknittert, und der gebrochene Rücken knisterte unter meinen Fingern. Auf die zweite Seite hatte ich eine Widmung geschrieben. Ich erinnerte mich noch daran: »Für Jean — weil auch kleine Leute Abenteuer erleben können.« Ich schlug das Buch auf, aber die zweite Seite war nicht mehr da. Herausgerissen oder herausgefallen, das konnte ich nicht erkennen.
Behutsam schob ich das Buch wieder ins Regal.
Draußen saß Alex in ihrem Schaukelstuhl. »Zufrieden?«, fragte sie.
Ich hatte Mühe, nicht aus der Haut zu fahren. Wenn ich Alex verärgerte, würde ich nicht bekommen, was ich
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