Der König der Lügen
aus den Angeln. Ihr Verstand trieb ruderlos dahin, hinter Augen, die irgendein unaussprechliches Grauen sahen. Wie lange war sie schon so? Und war sie schon zu weit weg?
Unversehens war ich aufgesprungen und streckte die Hände nach ihr aus, um sie zu trösten, so gut ich konnte. Ich berührte ihre Schulter, und sie riss die Augen auf, groß und weiß. »Rühr mich nicht an«, sagte sie. »Niemand rührt mich an.«
Sie wich zurück, die Hände vor sich ausgestreckt. Ihr Rücken stieß an die Schlafzimmertür und schob sie auf. »Du solltest einfach nach Hause gehen, Work. Ich kann nicht mit dir reden.«
»Jean«, beschwor ich sie.
Ihre Augen waren immer noch feucht und glasig im trüben Licht der Glühlampen. Sie wich weiter ins Schlafzimmer zurück, und ihre Hand lag an der Tür, bereit, sie zu schließen. »Daddy hat immer gesagt, was geschehen ist, ist geschehen, und da sind wir jetzt. Ich habe gesagt, was ich zu sagen hatte, Work. Ich habe dieser Frau nichts über dich erzählt. Jetzt geh nach Hause. Geschehen ist geschehen.« Ein seltsames Gurgeln kam aus ihrer Kehle, halb Schluchzen, halb Lachen. »Daddy ist tot... und geschehen ist geschehen.« Ihr Blick ging von mir zu Alex. »Stimmt' s, Alex?«, fragte sie. »Stimmt doch, oder?« Und mit immer noch wild aufgerissenen Augen schloss sie die Tür.
Mir war schwindlig. Jeans Worte schwirrten in meinem Kopf. Ihre Worte und ihr Gesicht — ein Gesichtsausdruck, den ich nie vergessen würde. Ich erschrak, als Alex mir eine Hand auf die Schulter legte. Die Haustür stand offen, und sie deutete dort hin.
»Kommen Sie nicht wieder her«, sagte sie. »Das meine ich ernst.«
Hilflos zeigte ich auf die Tür, hinter der sich meine Schwester verbarg. »Was haben Sie mit ihr gemacht?«, fragte ich, aber ich wusste, dass Alex ausnahmsweise schuldlos war. Ich wusste es, und es war mir egal. Mein Arm sank herab. »Sie braucht Hilfe, Alex.«
»Nicht von Ihnen.«
»Nichts, was Sie sagen oder tun könnten, wird mich dazu bringen, sie im Stich zu lassen.« Ich tat einen Schritt auf sie zu. »Entweder Sie besorgen ihr Hilfe, oder ich werde es tun. Drücke ich mich klar genug aus?«
Alex wich nicht zurück. Sie stieß mir mit dem Finger hart gegen die Brust. »Sie halten sich fern von Jean! Von uns und von diesem Haus!« Sie stieß noch einmal zu und starrte mich wütend an. »Sie«, sagte sie und stieß mir wieder gegen die Brust, »Sie sind das Problem. Sie!«
So standen wir da. Die Grenzlinie war gezogen, aber in ihren Augen sah ich den Schimmer einer schrecklichen Wahrheit. Ich war das Problem. Nicht nur ich, aber ich auch. Ich schmeckte die Schuld auf der Zunge.
»Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen«, sagte ich. »Verpissen Sie sich.«
Ausnahmsweise widersprach ich nicht mehr. Wie betäubt ging ich in die milde Nachtluft hinaus. Die Haustür schloss sich mit einem Klicken, und ich hörte, wie der Riegel vorgeschoben wurde.
Ich stand vor dem Tor, mutterseelenallein.
Ich zog mich in die Uterusstille meines Pick-up zurück, den Blick auf das dunkle Haus gerichtet, und durchlebte die Augenblicke des Verfalls meiner Schwester. Wie lange würde es dauern, bis sie noch einmal versuchte, sich umzubringen? Die Anzeichen waren da, und in einem finsteren Teil meines Kopfes ertönten die alptraumhaften Worte.
Aller guten Dinge sind drei.
Und ich fürchtete, es war nur noch eine Frage der Zeit.
Ich startete den Wagen, und der Motor weckte ein Vibrieren in mir. Ich spürte, wie mein Herz ins Stottern geriet, als es von der Wahrheit, die ich hier erfahren hatte, zusammengepresst wurde. Es konnte keinen Zweifel mehr geben. Jean hatte ihn umgebracht. Meine kleine Schwester. Sie hatte ihm zwei Kugeln in den Kopf gejagt und ihn verrotten lassen. Ihre Worte hallten in meinem Kopf —geschehen ist geschehen —, und ich wusste klarer denn je, dass es bei mir lag, sie zu retten. Sie konnte nicht ins Gefängnis. Sie würde darin umkommen.
Aber wie sollte ich es anfangen? Wie konnte ich verhindern, dass Mills zwei und zwei zusammenzählte? Das war keine leichte Frage, und mir fiel nur eine einzige Antwort ein: Ich musste dafür sorgen, dass sie ihre Aufmerksamkeit auf mich konzentrierte.
Wenn es sein musste, würde ich für Jean den Kopf hinhalten, aber das war das letzte Mittel.
Es musste einen Weg geben.
Als ich den Park vor meinem Haus erreichte, wurde mir klar, dass ich mich an die Fahrt hierher nicht erinnern konnte. Ich war bei Jean gewesen, und jetzt war ich am Park.
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