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Der König der Lügen

Der König der Lügen

Titel: Der König der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Hart
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geh springen«, sagte ich und ließ sie stehen.
    Die Mittagspause kam und ging, und die Kids sprangen immer weiter. Ich hörte einen Erwachsenen sagen, dass wir wahrscheinlich mehr als achttausend Dollar zusammenbringen würden, und ich fand, das war viel Geld für ein Ei.
    Es war gegen drei, als ich sah, wie das Mädchen in dem violetten Kleid nach draußen ging. Es überraschte mich nicht, dass ich ihr folgte; ich hatte nur ein bisschen Angst. Aber der Tag würde nicht ewig dauern.
    Draußen wehte ein heißer Wind, trieb den Geruch von Auspuffgasen über den Parkplatz. Auf der Interstate flogen die Autos vorüber. Vögel spähten von den Stromleitungen herunter. Dann sah ich sie, unten am Bach, ungefähr dort, wo er unter den Parkplatz floss. Sie schaute auf ihre Füße und kickte kleine Steine vor sich her. Sie sah ernst aus, und ich fragte mich, woran sie wohl dachte und was ich zu ihr sagen sollte, wenn ich schließlich den Mut fände.
    Sie ging an den letzten Autos vorbei. Die Mall lag jetzt weit hinter uns. Niemand sonst war in der Nähe. Keine Kids. Keine Eltern. Nur wir. Sie war fast am Bach, und der Tunnel war dunkel in der steilen, grasbewachsenen Böschung. Wolken zogen vor die Sonne, und es wurde dunkler. Der Wind hörte auf, und ich schaute kurz hoch.
    Dann sah ich, wie Vanessa erschrak. Ihre Hände flogen hoch, als wollte sie etwas fangen, aber sie gab keinen Laut von sich. Sie machte einen Schritt rückwärts. Und ein Mann, langarmig und geduckt, richtete sich auf und sprang aus dem Bachbett herauf. Er war schäbig gekleidet und hatte rote Augen und einen struppigen Bart. Er riss sie an sich, drückte ihr die Hand auf den Mund und war wieder verschwunden, zurück in den Bach und den Tunnel, der unter dem Parkplatz hindurch führte.
    Ich sah mich nach Hilfe um, aber da waren nur leere Autos und die Mall, die sehr weit weg zu sein schien. Ich stand wie gelähmt da, doch dann hörte ich einen gedämpften Schrei. Ehe mir klar war, was ich tat, sprang ich die Böschung hinunter. Ich hatte solche Angst, dass ich kaum atmen konnte, und dann hörte ich sie wieder — mehr wimmern als schreien —, und die schwarze Dunkelheit verschluckte mich. Ich dachte an das violette Kleid und an das Lächeln, das sie mir geschenkt hatte. Ich machte noch einen Schritt in das schwarze Loch hinein, und dann gab es nur noch uns drei. Aber ich dachte an ihr Gesicht, an blaue Augen und schmutzige Finger, ich sah den Schimmer ihrer weißen Beine, als er sie hinunterzerrte, und wie sie angstvoll gestrampelt hatten — und ich stolperte weiter wie in einem Traum ...
    Ich drehte die Fenster herunter, weil ich Luft brauchte. Die Bilder waren seit Jahren nicht mehr so klar gewesen, und diesmal war es anders — als wollte mir jemand wehtun. Ich dachte an Kap-Astern, die aussahen wie offene Augen, und dann war ich wieder in der Vergangenheit, wieder in der Dunkelheit, als geschähe das alles jetzt und nicht vor dreiundzwanzig Jahren.
    Schwarzes Wasser bewegte sich wie Teer im Dunkeln. Es drang in meine Turnschuhe und leckte an meinen Schienbeinen. Ich hörte sie vor mir, einen einzigen schrillen Aufschrei, und dann nur den Bach — sein Murmeln, ein leises Plätschern. Ich blieb stehen und sah mich nach dem hellen Viereck um, das schon so weit hinter mir lag.
    Ich wollte zurücklaufen, aber so was taten Feiglinge, Waschlappen. Also ging ich weiter, und es wurde dunkler. Ich streckte die Hände aus wie ein Blinder. Steine ließen mich stolpern, und die Dunkelheit wollte mich hinunterziehen, aber im Kopf sah ich immer noch das Mädchen. Dann schimmerte vor mir fahles Licht, und ich glaubte sie zu sehen.
    Ich stolperte und stürzte schwer. Meine Hände versanken im Schlick, schleimiges Wasser spritzte auf mein Gesicht. Etwas strich über meinen Arm, und fast hätte ich geschrien. Aber ich stand wieder auf. Sei stark, befahl ich mir, streckte die Hände wieder aus und ging auf das ferne Licht zu.
    Es war, als wäre ich blind. Nur schlimmer. Viel schlimmer...
    Ein Blinder hätte nicht getan, was ich tat, und das sagte ich leise vor mich hin, als ich vor Vanessas Haus anhielt und den Motor abstellte.
    »Ein Blinder hätte das nicht getan.«
    Ich zog den Kopf ein und spähte durch die Frontscheibe. In ihrem Haus brannte Licht; es schien durch die Fenster und zerschnitt die Dunkelheit wie mit Messerklingen. Bis auf die Fenster, die mit Brettern vernagelt waren, dachte ich. Sie waren dunkel und blicklos.
    Ausgestochen.
    Blind.
    ... Das

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