Der König der purpurnen Stadt: Historischer Roman (German Edition)
waren als die meisten kleinen Kaufleute und ihr Vermögen oft mit Großhandel in allen möglichen Gütern mehrten, also selbst Großkaufleute waren.
Jonah schüttelte wiederum den Kopf. »Ich bin sicher, sie haben getan, was sie konnten.«
Er hatte kaum Erinnerungen an jene Zeit. Er wusste eigentlich nur das, was seine Großmutter ihm erzählt hatte: Cecilias Mann hatte sich von der liederlichen Tochter losgesagt, die sich von einem stadtbekannten Taugenichts, Spieler und Trunkenbold hatte schwängern lassen – wenngleich der stadtbekannte Taugenichts mehr Ehre bewies als manch anderer, hatte Jonah oft gedacht, indem er das Mädchen heiratete, das er in Schwierigkeiten gebracht hatte, wozu nichts und niemand ihn zwang als höchstens sein Gewissen. Es hatte seinen Großvater nicht versöhnt. Erst nach dessen Tod hatte die Großmutter ihre bettelarmeund inzwischen todkranke Tochter ausfindig machen und nach Hause bringen können. Ihr Sohn, Ruperts Vater, hatte seine Schwester und deren Balg nur widerwillig aufgenommen, doch ehe sie starb, hatte er ihr versprochen, ihren Jungen in die Lehre zu nehmen. Erst einmal sorgte die Großmutter dafür, dass der inzwischen fünfjährige Jonah auf die Schule von Bermondsey Abbey kam. Das Benediktinerkloster befand sich außerhalb der Stadtmauern, am grünen südlichen Themseufer gegenüber dem Tower, und die Schule stand in hohem Ansehen. Cecilia wusste sehr wohl, dass eine gute Schulbildung die wichtigste Voraussetzung war, um ein guter Kaufmann zu werden. Jonahs früheste Erinnerung war ein seltsam widersprüchliches Gemisch aus Verlorenheit, Trauer um seine Mutter – und Erleichterung, seinem mürrischen Onkel und seinem Vetter Rupert, der damals ein siebzehnjähriger Flegel gewesen war und ihn unbarmherzig gehänselt und malträtiert hatte, entkommen zu sein. Jonah hatte sich schnell in Bermondsey Abbey eingelebt. Die meisten der Brüder waren sehr gut zu ihm. Sie erfreuten sich an seinem wachen Geist und förderten ihn, ohne je zu verlangen, dass er sich mehr öffnete, mehr redete oder mehr von sich preisgab, als seiner Natur entsprach. Kam er zu hohen Feiertagen nach Hause, war er immer erleichtert, wenn er anschließend in die Stille und Geborgenheit des Klosters zurückkehren konnte. Doch als der Bruder Prior ihn kurz vor dem Verlassen der Schule gefragt hatte, ob er nicht bleiben und die Gelübde ablegen wolle, hatte Jonah abgelehnt. Und so schlimm es auch manchmal war mit Rupert und Elizabeth, hatte er seinen Entschluss trotzdem nie wirklich bereut. Er hatte irgendwie immer gewusst, dass er in die Welt da draußen vor den Klostermauern gehörte. In Bermondsey Abbey zu bleiben hätte nicht bedeutet, ihr zu entsagen, sondern sich vor ihr zu drücken.
Um von sich und seiner wenig erbaulichen Geschichte abzulenken, beugte er sich über Annot und befühlte das feine, glänzende Tuch in ihrem Schoß zwischen zwei Fingern. Es war kühl und glatt wie ein Spiegel. »Der Silberschmied in mir sagt, du solltest lernen, eine solche Seide mit Gold- und Silbergarn zubesticken. Dann könntest du sie für das Zehnfache dessen verkaufen, was du bezahlst.«
Sie sah zu ihm auf. Schon so oft hatte sie sich gewünscht, seine Aufmerksamkeit zu erregen. Jetzt, da es passiert war, fühlte sie sich mit einem Mal scheu und unbeholfen. »Aber ich will doch Seidenhändlerin werden, nicht Stickerin«, war alles, was zu erwidern ihr einfiel.
Er lächelte auf sie hinab. Annot fragte sich, ob er wusste, dass sich in seinen Mundwinkeln zwei Grübchen bildeten, wenn er lächelte, ob er ahnte, welch eine verheerende Wirkung seine geschwungenen, beinah vollen Lippen selbst auf ein anständiges Mädchen wie sie hatten, dass sie sie verleiten wollten, aufzuspringen und ihren Mund darauf zu pressen. Sie senkte hastig den Kopf, damit er ihre beschämenden Gedanken ja nicht erriet.
Manchmal lag Annot abends in der Dachkammer in ihrem Bett, das sie mit den beiden Mägden teilte, und überlegte sich, wie es wohl wäre, wenn sie sich einmal allein mit Jonah nach Ladenschluss im Lager fände. Sie legte sich Dinge zurecht, gescheite und witzige Bemerkungen, Neckereien und Schmeicheleien, denn sie wünschte sich so sehr, dass er sie bewunderte und mochte, sie endlich zur Kenntnis nahm. Und sie malte sich aus, dass er sie einmal mit auf einen der vielen Märkte der Stadt nahm oder zu einer der Paraden oder gar zu den Schauspielen, die die Gilden veranstalteten. Beinah schon ein halbes Jahr lebte sie jetzt hier
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