Der König der purpurnen Stadt: Historischer Roman (German Edition)
und hatte doch außer der Kirche und den Läden der Nachbarschaft noch nichts von der großen Stadt gesehen.
»Nun, wenn du Seidenhändlerin und Stickerin wärest, könntest du jedenfalls steinreich werden«, bemerkte Crispin, dem gar nicht gefiel, welche Blicke Annot unter ihren dichten Wimpern hervor auf Jonah warf.
Sie faltete mit einem Seufzer ihre kostbare Ware zusammen und erhob sich. »Ich werde darüber nachdenken. Jetzt sollte ich wohl erst einmal gehen und der Meisterin bei der Abrechnung helfen. Wenn ich das nicht bald lerne, werde ich ganz sicher nicht reich, egal in welchem Geschäft.«
Crispin tat das mit einer wegwerfenden Geste ab. »Ach, bleib doch noch einen Augenblick. Die Bücher laufen einem niemals weg, glaub mir, ich spreche aus Erfahrung.«
»Crispin …«, mahnte Jonah leise.
Der Jüngere zog verwundert die Brauen hoch. »Ah, da spricht unser Ausbund an Pflichterfüllung, der sich jeden Abend förmlich darum reißt, die Abrechnung zu machen.«
Jonah verzog einen Mundwinkel, sagte aber ernst: »Bring sie nicht in Schwierigkeiten.«
Annot war so beglückt darüber, dass er sich um ihretwillen sorgte, dass sie erwog, ihren Aufbruch noch ein paar Minuten aufzuschieben. Doch noch ehe sie einen Entschluss gefasst hatte, rief eine Stimme aus dem vorderen Teil des Ladens: »Gott zum Gruße, gibt’s hier auch Bedienung?«
Das etwas schrille Trällern war unverkennbar: Es war Mistress Thorpe, die schwatzhafte Gattin eines Schuhmachers aus der Nachbarschaft. Jonah verdrehte vielsagend die Augen und machte eine einladende Geste in Crispins Richtung.
»Immer ich«, murrte der Jüngere. »Das ist nicht gerecht.« Doch dann setzte er sein strahlendstes Lächeln auf und ging entschlossenen Schrittes nach vorn. »Mistress Thorpe! Welche Freude, dass Ihr uns beehrt. Ihr seht blendend aus, Madam, wenn Ihr meine Kühnheit verzeihen wollt. Erzählt mir nicht, Ihr wollt Tuch für einen neuen Mantel – keiner könnte Euch besser stehen als der, den Ihr tragt.«
Die Nachbarsfrau kicherte wie eine ihrer zahlreichen Töchter. »Was für ein Schmeichler du bist, Crispin. Nein, unsere Mildred soll sich demnächst zum ersten Mal mit ihrem Verlobten treffen, und ich will ihr ein neues Kleid nähen. Sie soll recht hübsch aussehen.«
»Das ist hoffnungslos«, wisperte Annot und wurde von Jonah mit einem spitzbübischen Verschwörerlächeln belohnt. Aber er brach den Blickkontakt gleich wieder ab, nahm Crispins Bürste auf und setzte dessen Arbeit eine gute Portion schneller und geschickter fort. Annot bewunderte verstohlen seine sparsamen, geschmeidigen Bewegungen.
»Mildred?«, hörten sie Crispin fragen. »Sie soll schon heiraten? Wer ist denn der Glückspilz?«
»Seaburys Ältester«, verkündete die zukünftige Brautmutter mit unverhohlenem Stolz.
»Seabury? Der Apotheker? Glückwunsch, Mistress. Eine großartige Partie.«
Sie hielten sich ein paar Minuten mit dem Ansehen und Vermögen der alteingesessenen Apothekerfamilie auf, und fast beiläufig legte Crispin der kauffreudigen Kundin die neue Ware aus Salisbury vor, deren Farbe, so betonte er, vortrefflich zu Mildreds hübschen Augen passen werde.
Doch als Mistress Thorpe den Preis hörte, kühlte ihre Begeisterung merklich ab. » Zwei Shilling pro Yard? Aber Crispin, wo denkst du hin? Sie soll Seaburys Sohn heiraten, nicht den Kalifen von Cordoba. Webster von gegenüber hat mir ein grünes Tuch für acht Pence gezeigt!«
»Webster von gegenüber« war der Tuchhändler Christian Webster, Rupert Hillocks größter Konkurrent und Widersacher. Einen Kunden an ihn zu verlieren war folglich ganz besonders bitter. Crispin versuchte, die Kundin von der überlegenen Qualität seiner Ware zu überzeugen, aber Jonah spürte förmlich in den Fingerspitzen, wie ihnen das Geschäft durch die Lappen ging. Er trat neben Crispin an den Ladentisch und neigte ehrerbietig das Haupt vor der fassrunden Matrone in ihrer gräulich weißen Rise, unter welcher sich ihr baumstammdicker Hals und ein beachtliches Doppelkinn abzeichneten. Jedes Mal, wenn er die Nachbarsfrau sah, erschreckte ihn wieder aufs Neue, wie fett sie war. »Einen guten Tag, Mistress«, grüßte er höflich.
»Ah! Jonah.« Sie lächelte, doch ihre Stimme trällerte nicht mehr so überschwänglich wie zuvor. Wie so vielen der Handwerkers- und Kaufmannsfrauen aus der Gegend flößte Rupert Hillocks wortkarger Lehrling mit den durchdringenden, schwarzen Augen auch ihr ein leises Unbehagen ein. Jonah
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