Der Koenig geht tot
Vielleicht war es die Panik im Gesicht des Jugendlichen, die die feiernde Masse innehalten ließ. Sein weißes Gesicht, die vor Schrecken aufgerissenen Augen, die fahrigen Bewegungen, als er unter der Vogelstange hindurch heranstürzte. Der Junge, der vielleicht sechzehn, höchstens siebzehn war, schien völlig außer Atem. Sein Rufen war kaum zu verstehen, weil er keinen Atem mehr hatte. Er mußte ein ganzes Stück gelaufen sein. Doch seine panischen Gesten ließen auch den letzten Hurra-Rufer verstummen.
»Dada liegt einer!« rief der Junge verzweifelt und zeigte in einen nahegelegenen Wald. »Da liegt einer! Der ist tot!«
25
Der Kater nach diesem Ereignis war vergleichbar dem nach der ersten Leiche. Mittlerweile glaubte ich an eine gewisse Zwangsläufigkeit. Das Schützenfest und ich, wir paßten einfach nicht zusammen. Daraus konnte nichts Gutes hervorgehen. Im Gegenteil: Es kam gleich zu einer Katastrophe, wenn ich mich zu einem fröhlichen Zusammensein mit jagdgrün gekleideten Mitmenschen versammelte. Daß man Jürgen Hebels Leiche gerade gefunden hatte, da ich mich zum zweiten Mal entschlossen hatte, mich dem sauerländischen Brauchtum hinzugeben, konnte ich nicht länger übersehen. Roberts gute Laune war natürlich auch wie weggeblasen. Am liebsten wäre er gleich wieder nach Köln gefahren, doch in dem Glauben, mich unterstützen zu müssen, verweilte er noch in meiner Wohnung. Wie zwei Trauerklöße saßen wir jetzt da und blätterten in verschiedenen Tageszeitungen. Man konnte wirklich nur von Blättern sprechen, denn ich hatte das Gefühl, daß wir beide auch nicht ein Wort von dem aufnahmen, was da gedruckt stand. Wahrscheinlich hätten wir das noch stundenlang tun können, wenn mir nicht plötzlich etwas aufgefallen wäre. Ich nehme an, es war beim siebten Durchblättern, als doch noch so etwas wie eine neuronale Vermittlung zwischen Auge und Gehirn stattfand.
»Osterfeld?« fragte ich Robert. »Osterfeld?«
Robert sah mich an, als hätte das letzte Fünkchen Verstand mich nun endgültig verlassen.
»Tut mir leid«, antwortete er trocken. »Mein Name ist Weinand.«
»Osterfeld!« wiederholte ich noch einmal, ohne auch nur im entferntesten Roberts Antwort zu verarbeiten. Meine Zellen waren mit der Erinnerungsarbeit restlos ausgelastet.
»Osterfeld das ist die Firma, die den Stichlingser Schützenverein unterstützt.« Ich war einerseits erleichtert, andererseits stolz.
»Und was ist mit der?« Robert hatte sich nun doch entschlossen, mich wieder ernst zu nehmen.
»Dort findet am Dienstag, also morgen, eine Besichtigung statt«, referierte ich mit Blick auf die Zeitung. »Die Mittelstandsvereinigung erinnert alle Mitglieder und Interessierte an den Termin. Firmenchef Johannes Osterfeld wird höchstpersönlich die Betriebsführung übernehmen.«
»Also, das ist ja mal ein echter Knüller!« Robert gab sich begeistert. »Da findet tatsächlich in einer sauerländischen Kleinstadt eine Besichtigung eines mittelständischen Betriebes statt? Himmelherrgott daß ich das noch erleben darf!«
»Ich mein ja bloß«, knurrte ich. »Ich wußte zunächst nicht, wo ich den Namen hinstecken sollte.«
»Nur keine Hemmungen!« schwadronierte Robert ironisch. »Wenn du was auf dem Herzen hast, laß es einfach raus! Egal, ob es um die Neueröffnung eines Blumenladens geht, ein Sonderangebot im Baumarkt um die Ecke oder darum, daß dir gerade der Name eines alten Bekannten wieder eingefallen ist. Du weißt, du kannst dich mit allem an mich wenden. Wofür hat man denn gute Freunde?«
Ich würdigte Robert keines Blickes mehr und tat so, als würde ich mich wieder in meine Zeitung vertiefen.
Als das Telefon klingelte, ahnte ich sofort, wer dran war. Im Grunde hatte ich schon auf diesen Anruf gewartet. Und richtig. Es war Max.
»Das gibt’s doch gar nicht!« sagte er einfach.
»Doch, das gibt’s!« antwortete ich matt.
»Und du hast ihn selbst gesehen?«
»Erinnere mich nicht daran!« murmelte ich unwillig.
»Mir ist jetzt noch schlecht! Der Anblick eines Toten mit einer Schußwunde im Kopf nach drei Tagen in brütender Hitze ist nicht gerade das, was ich mir morgens vorm Frühstück wünsche.«
»Würdest du mit mirzu seiner Frau fahren?«
»Bist du wahnsinnig? Was soll ich da?« Glaubte Max, ich wär ein Masochist? Ich konnte mir etwas Leichteres vorstellen als einer gerade Witwe gewordenen Frau Gesellschaft zu leisten, ohne ihr wirklich helfen zu können.
»Jupp hat mich angerufen«,
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