Der König muß sterben
zu verstecken hatten. Aber gab es das überhaupt noch, das Gesetz? Und wer übte es aus?
In höchster Wachsamkeit ritt er weiter, immer wieder nach allen Seiten sichernd. Dass die Gegend so übersichtlich erschien, erleichterte sein Gefühl, sich gut getarnt vorwärts zu bewegen. Aber am zweiten Tag im Gebirge stellte es sich als entsetzliche Täuschung heraus.
Hinter einer Wegbiegung, in einer Verengung der Felsen zu beiden Seiten, brach plötzlich ein braunes Ungetüm aus einer Felshöhle. Erst nach einem Augenblick des Erschreckens begriff Henri, dass es sich um einen Bären handelte. Es war ein so riesiges Tier, wie sie es noch nie gesehen hatten. Der Bär brüllte mit aufgerissenem Maul und zeigte sein Furcht einflößendes Gebiss. Er sprang überraschend behänd auf das zweite Pferd zu – und schnappte nach dem Banditen.
Das Schreien des Unglückseligen hing Henri danach noch lange in den Ohren. Der Bär schien den Mann zu kennen, so ausschließlich beschäftigte er sich mit ihm, er schleifte den Gebundenen im Maul davon und verschwand im Gewirr der zerklüfteten Felsen.
Es war aussichtslos, ihn zu verfolgen.
Nach einigen Augenblicken verstummten die Todesschreie des Verschleppten.
Im lähmenden Entsetzen vermochte Henri keinen klaren Gedanken zu denken. Er wusste, er hätte ebenso wenig eine Gelegenheit zur Abwehr gehabt wie der Bandit.
Henri nahm sich zusammen. Jetzt war er ohne Ortskundigen in einer feindseligen Landschaft. Und der Weg führte immer höher hinauf in kahle, zerklüftete Berge.
Er ritt jetzt weiter, als stünde ihm in jeder Minute ein neuerlicher Überfall bevor. Oft hielt er an, stellte sich in einer Höhle unter und beobachtete Weg und Umgebung nach allen Seiten. Bis zum Abend geschah nichts mehr. Aber als er rastete und sich in seinem neuen Topf aus gesalzenem Stockfisch eine dünne Suppe kochte, war er bedrückt. Er hatte das Gefühl, schwere Kämpfe hinter sich gebracht zu haben. Es ist die Seele, musste er denken. Sie ist ein mitleidendes Geschöpf.
Und an diesem Abend, als er allein am Lagerfeuer saß und achtlos aß, flüchtete er sich aus der gefahrvollen Gegenwart in die Vergangenheit.
Er musste an den Weg zurück in seine schottische Heimat denken, den er damals, nach den ersten Verhaftungen seiner Ordensbrüder vor sieben Jahren, angetreten hatte. Noch einmal hatte er sich in Sicherheit wiegen wollen. Aber auch das war trügerisch gewesen, denn tausend Gefahren hatten ihn unterwegs bedroht und aufgehalten.
2
Im Jahr des Herrn 1311, nach Maria Himmelfahrt
Es war mehr als die Hitze des Thermidors, die Henri salzige Tränen in die Augen trieb. Er war wie betäubt von dem gerade Erlebten. Es ist das große Verbrechen unserer Zeit, dachte er, wie konnte es nur dazu kommen? Warum haben wir es nicht verhindert? Es war unfassbar und lähmte noch immer seine Sinne. Aber er wusste auch, dass er nun handeln musste.
Während Henri sein Pferd von Paris aus über die stark bereiste Straße nach Norden lenkte, versuchte er sich zu erinnern. Es war alles aus, darüber konnte er sich nicht hinwegtäuschen. Aber wann hatte es begonnen?
Er wusste es nur aus seinen Lektionen. War es nicht im Jahr des Herrn 1119 gewesen? So hatte man es ihn in der Klosterschule gelehrt. Damals übernahmen die beiden nordfranzösischen Ritter Hugo von Payus und Gottfried von St. Omer mit sieben Gefährten die fromme Aufgabe, die Wege nach Jerusalem von Räubern freizuhalten, damit die Pilger in Sicherheit zur heiligen Stätte reisen konnten. Stets kämpften unsere Brüder unter wehendem Kreuzesbanner im vordersten Glied, dachte Henri, ihnen folgten sogar die Könige. Und immer waren sie die Letzten, die sich zurückzogen, so hofften sie, sich den Himmel zu verdienen. Es war der Beginn einer großartigen Zeit gewesen! Jeder nachfolgende Tempelritter hatte das so empfunden. Und als der Ritter Raimond Dupuy um dieselbe Zeit die armen Brüder des Hospitals von St. Johann organisierte, schufen sie Seite an Seite der gläubigen Inbrunst und dem kriegerischen Eifer eine unwiderstehliche Bresche.
Wie gern wäre er damals dabei gewesen! Henri konnte sich die Anziehungskraft vorstellen, die das neue Ideal von Mönchtum und Ritterstolz damals ausgeübt hatte. Sie hatten die Welt aufgegeben, um Christus mit dem Schwert zu dienen! Wie wunderbar! Ein weißes Gewand, das Symbol der Unschuld, dem Eugen der Dritte ein blutrotes Kreuz hinzufügte! Und ihre schwarzweiße Fahne Bauséant mit der Inschrift
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