Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der König muß sterben

Der König muß sterben

Titel: Der König muß sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Espen
Vom Netzwerk:
Vollmachten einzusetzen. Imbert schüttelte die Erinnerung ab. Er wollte nur seiner Fährte folgen. Als er unten im Festsaal angekommen war, nahm er tatsächlich wahr, dass daraufhin zwei Männer auffällig schnell, geradezu fluchtartig den Festsaal verließen, als flöße er ihnen Furcht ein.
    Er glaubte, sie zu kennen. Vor allem den mit der Augenbinde. Wo war er dieser hoch gewachsenen, aristokratisch wirkenden Gestalt schon einmal begegnet? Aber sie verschwanden zu hastig. Und der Großinquisitor wandte seine Aufmerksamkeit wie die schon vor ihm eingetretenen Kirchenfürsten ausgiebig der Tafel mit ihren Verführungen zu. Er setzte sich ungeniert unter den Baldachin des Papstes, tätschelte den weißen Hund des Papstes, der den Kopf auf sein Knie legte, ließ sich roten Wein aus funkelnden Karaffen einschenken und sprach dem Wildbret zu.
    Den Geschmack des marinierten Wildes in Wacholderschaum hatte Imbert »de Paris« noch immer im Mund. Er rülpste unterdrückt hinter vorgehaltener Hand und trank einen Schluck sauren Messwein. Er verzog das Gesicht, dann wandte er sich um und sah sich der Gemeinde gegenüber.
    Sie waren alle gekommen. Aber wollten sie die Passionszeit feiern oder den Beginn des Passahfestes? Das war ihren erwartungsvollen Unschuldsmienen nicht zu entnehmen.
    Wie es einem Großinquisitor gebührte, ließ er seine misstrauischen Blicke über ihre Köpfe gleiten. War ein Verdächtiger darunter, ein Ungläubiger, ein Ketzer? Imbert war es gewohnt, blitzschnell wahrzunehmen, auszusondern, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Er wusste, die Feinde der Kirche und des wahren Glaubens lauerten überall. Manches Mal verspürte er sogar Furcht. Nur im Kreis der domini canes, der Hunde des Herrn, wie er seine Dominikaner heimlich nannte, die seine Geschäfte kräftig unterstützten, fühlte er sich sicher.
    Er sog wie ein Spürhund die Luft in der Kirche ein. Es roch nach Weihrauch und Myrrhe im Weihwasser, mit dem die grünen Zweige in den Händen der Gläubigen zuvor besprengt worden waren. Dieser Geruch war ihm vertraut, fast wie eine Heimat. Darin lag nichts Fremdes, Gefährliches.
    Imbert atmetet tief ein und sagte: »Sechs Tage vor dem Osterfest kam der Herr in die Stadt. Er kam in die Mauern seiner Feinde. Aber er wusste es nicht…«
    Ja, dachte der Großinquisitor, die Mauern seiner Feinde sind auch die meinen. Wir sind überall in Feindesland. Und deshalb müssen wir unbarmherzig sein.
    »Ruhm und Preis und Ehre sei Dir, Erlöser und König! Jubelnd rief einst das Volk sein Hosianna Dir allein zu!«
    Er stockte.
    Dieser Mann, der sich so eilig davongemacht hatte. Gott helfe mir! Wer war er? Von ihm geht eine Gefahr aus! Das kann ich körperlich spüren!
    Nur mühsam sprach er weiter. »Gepriesen sei, der kommt im Namen des Herrn! Gepriesen seien auch alle seine hohen Diener der Kirche!«
    Den zweiten Satz hatte Imbert »de Paris« sich gerade eben einfallen lassen, denn er stand nicht im Liturgietext. Er musste ihn einfach einfügen, denn waren nicht in Wahrheit er selbst und die wenigen nachgeordneten Würdenträger der hohen Kirche in ihrem unermüdlichen Kampf gegen die Häretiker die zu Preisenden?
    »Sechs Tage vor dem Osterfest kam der Herr in die… in die Mauern seiner Feinde…!«
    Nein, das hatte er schon gesagt. Es wurde ihm schnell bewusst. Er war durcheinander, denn soeben war ihm eingefallen, woher er den Mann mit der Augenbinde aus dem Konventssaal kannte!
    Es war der Ketzer! Henri de Roslin! Der meistgesuchte Tempelritter der Erdenscheibe!
    Er hatte mit seinen homosexuellen Brüdern das Haupt des Muhammad angebetet und ihn mitten auf den Mund geküsst – vielleicht auch noch woandershin! Henri de Roslin! War es möglich, dass er in Avignon weilte? Man vermutete ihn doch bei Gisors im englischfreundlichen Herzogtum Bretagne!
    Imbert kam nur mühsam in die Messfeier zurück. Schon wurde die Gemeinde unruhig. Er nahm sich zusammen. Es gelang ihm, die Leidensgeschichte Jesu nach Matthäus zu verlesen.
    Schon diese Geschichte allein brachte in die gottesdienstliche Feier des Palmsonntags die Spannung, die man seit den frühchristlichen Osterfeiern hören wollte. Leiden und Tod, Auferstehung und Erhöhung. Auch Imbert selbst, obwohl er jedes Wort auswendig kannte, wurde davon immer wieder aufs Neue ergriffen. Aber in diesem Moment war Imbert noch von einer anderen Spannung ergriffen, und er übertrug sie auf die Gemeinde. Es war die innere Anspannung des Jägers, der wittert und

Weitere Kostenlose Bücher