Der König muß sterben
inzwischen so dicht wie der eines Assassinen und sein Haupthaar so lang wie das von Jesus Christus! Henri beschloss, sich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen.
Aber das Gefühl, beobachtet zu werden, blieb.
Neben ihm wurde auch Joshua schon unruhig, und Uthman, der als Einziger nicht betete, gab einen fragenden Laut von sich. Auch sie hatten das unbestimmte Gefühl, dass jemand aus der Schar der Gläubigen heraus sie heimlich betrachtete.
Henri versuchte, aus den Augenwinkeln heraus etwas zu erkennen. Plötzlich hatte er das Gefühl, in eine Falle gegangen zu sein. Der erschreckende Gedanke nahm Besitz von ihm, alle Anwesenden in der Kirche seien Teil einer verräterischen Inszenierung der Marientage. Henri blieb für einen Moment das Herz stehen. Er ließ seine Blicke hastig durch das Kirchenschiff wandern. Musik, Gesänge, Gebete.
Henri schalt sich einen Narren. Es war Einbildung! Er atmete ruhiger und versuchte, etwas zu erkennen. Er tat so, als sei ihm der Rosenkranz entglitten, und wendete sich beim Bücken mit einem Ruck nach rechts. Da sah er den heimlichen Beobachter.
Nein, es war kein Einzelner, es waren mehrere! Überall saßen sie und starrten zu ihm herüber! Sie hatten nur Augen für ihn!
Seine Ahnung hatte ihn nicht getrogen, er war in ihre Falle gegangen!
Erst langsam begriff er, dass die Augenpaare, die ihn anblickten, nur herausfinden wollten, warum einer in der selbstvergessen betenden Menge sich plötzlich so auffällig bewegte und damit die gehorsamen Reihen der streng angeordneten Körper durchbrach. Denn es war ja so, als säße in dem Kirchenraum nur ein einziger, atmender, betender Körper, gebildet aus tausend Leibern, und diese Ordnung war plötzlich gestört.
»Was ist?«, zischte Uthman.
»Ich glaube, ein Mönch beobachtet uns. Ich kenne ihn nicht. Lassen wir uns nichts anmerken.«
»Wo sitzt er?«
»Zur Rechten. In der Verlängerung unserer Sitzreihe. Aber schau nicht hinüber.«
Henri überlegte. Hatte er diesen Mönch nicht doch schon irgendwo gesehen? Und dann dachte er: Wenn ich mir die Mönchskutte wegdenke und wenn ein Bartflaum dieses gebräunte Gesicht mit den kantigen Formen verzieren würde! Er schaute verstohlen noch einmal hinüber. Die Reihen der Betenden waren inzwischen wieder ausgerichtet, um das Wort des Herrn in sich einsickern zu lassen. Aber der fremde Beobachter blickte ihn in diesem Augenblick wieder an. Und er lächelte.
Da fiel es Henri wie Schuppen von den Augen. Ja, er kannte den Mann! Und es war kein Mönch! Er war ihm damals begegnet, als man den Großpräzeptor der Normandie verhaftete. Sie hatten es gegen die überwältigende Übermacht nicht verhindern können. Es war kein Geringerer als der Tempelritter Jacques de Charleroi! Der Lothringer hatte also die Verfolgung überlebt!
Von jetzt an fieberte Henri dem Ende der Messe entgegen. Er konnte sich nur noch zwingen, aufmerksam zu bleiben. Was machte der Ritter Jacques in der Kirche des verfemten Tempels? Plante er vielleicht etwas Ähnliches wie er selbst? Henri schüttelte innerlich den Kopf. Das war kaum möglich. Und doch…
Als die Messe zu Ende war und sich alle erhoben, flüsterte Henri seinen Freunden zu: »Wir treffen uns draußen vor dem Eingang!« Dann ging er durch die Reihen zu seinem Tempelbruder. Er fragte einfach: »Bist du es wirklich?« Und der andere nickte stumm. »Komm mit uns, meine Freunde warten schon.« Wieder nickte der andere.
Draußen war es noch kälter geworden. Die Dunkelheit brachte nun auch noch einen heftigen Wind von der Seine mit sich. Die Männer froren jämmerlich.
Henri machte seinen Tempelbruder mit den anderen bekannt. Jacques, der aus dem gleichen Grund wie Henri die Messe gehört hatte, nahm nach kurzer Überlegung seine Einladung an, gemeinsam nach Gambais zurückzureiten. Sie gaben sich die Hand. Dann machten sich die vier Männer schweigend auf den Weg.
Ihre Pferde standen im Schutz der hoch aufragenden Tempelmauern, an ein Gatter gebunden, das ehemals grüne Gartenrabatte umschloss. Während die Johanniter im Inneren der Burg verschwanden und Henri einen letzten bitteren Blick auf den Tempel warf, der ihm jahrelang eine Heimat gewesen war, lenkten seine Gefährten schon die Reittiere nach Süden.
Sie trabten über eine der beiden Seinebrücken nach Westen, vorbei an den schwerbewaffneten Soldaten, die jedoch auch jetzt niemanden anhielten und von einem Bein auf das andere sprangen. Sie bogen jenseits des Mauerringes, der die Insel umgab, nach
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