Der König und die Totenleserin3
sei, offene Gruben auf seinem Gelände zu dulden, vor allem dann, wenn sich gleich daneben eine gewaltige Erdaufschüttung befand.
Mansurs Augen waren geschlossen, und sie schloss auch die ihren, lauschte auf seinen Atem. Sie hatte ihren Hut in der Grube verloren und versuchte nun vergeblich, etwas von dem Dreck aus ihrem dunkelblonden Haar zu zupfen. Ihre Finger stießen gegen etwas Festes, das sich darin verfangen hatte. Sie zog es vorsichtig heraus – ein Stück Holz, das zerbröselte, genau wie das Holz, das sie in der Grube angefasst hatte. Das war der Beweis, so sie überhaupt noch einen gebraucht hatte, dass sie mit ihrer Theorie über Arthurs und Guineveres Sarg richtiglag.
Der Sarg war nicht in dunkler Vorzeit beerdigt worden; so altes Holz wäre in dieser Erde längst verrottet, und das Holz von Arthurs und Guineveres Sarg war viel, viel jünger. Das bedeutete, dass er nur dann in sechzehn Fuß Tiefe hatte landen können, wenn er in jenen wenigen, ach so wenigen Stunden vor zwanzig Jahren dorthin gebracht worden war, als das Erdbeben einen derartig tiefen Riss im Friedhof hatte entstehen lassen.
Rhys’ Onkel Caradoc war keine Vision beschert worden, er hatte ein tatsächliches Ereignis gesehen.
Traurigkeit überkam sie. Trotz ihrer starrköpfigen Suche nach der Wahrheit war irgendetwas in ihr von Arthurs goldenen Strahlen angerührt worden. Weniger durch die Legende selbst als vielmehr durch deren ungeheure Kraft, die sich ihrer Meinung nach dadurch erklärte, dass in den wirbelnden Nebeln von Britanniens finsterster Zeit ein Einzelner mit seinem Mut die Essenz dessen, was es bedeutete, Brite zu sein, das britische Wesen schlechthin, am Leben erhalten hatte – und dass ihr die Ehre zuteilgeworden war, seine sterblichen Überreste zu betrachten.
Eine noch größere Traurigkeit würden die Desillusionierung und die enttäuschten Hoffnungen der Menschen mit sich bringen, die aus Arthurs Magie ihre Lebenskraft bezogen. Sie biss die Zähne zusammen. Magie war vergänglich – man konnte und sollte sich nicht darauf verlassen.
Sie hatte den Zauber zerschlagen, aber welches Gefühl blieb bei ihr zurück? Ein unbehagliches …
Neben ihr sagte Mansur: »Die haben versucht, uns umzubringen, Adelia.«
Sie sah ihn an. Seine Augen waren noch immer vor Mattigkeit geschlossen. »Uns umzubringen?«
»Die Erde ist nicht von alleine herabgestürzt. Dieser Haufen lag schon viele Wochen dort. Warum hätte er ausgerechnet jetzt ins Rutschen kommen sollen?«
Großer allmächtiger Vater!
Sie war so erleichtert über ihre Rettung gewesen, so froh über Mansurs Überleben und das Wiedersehen mit Rowley, dass sie gar nicht mehr darüber nachgedacht hatte, ob der Unfall wirklich nur ein Unfall gewesen war. Jetzt ging sie im Geist zurück in die Grube, schaute nach oben, verspürte erneut das Entsetzen angesichts der herabstürzenden Erde.
Irgendwann zwischendurch hatte es kurz aufgehört, war keine Erde mehr auf sie gefallen. Und dann hatte es wieder angefangen – ja, als wäre jemand unzufrieden mit der ersten Menge gewesen, die auf sie herabgestürzt war. Wer auch immer da oben war, er hatte begonnen, auch den Rest in die Grube zu schaufeln oder treten, um sie ganz aufzufüllen.
Wer könnte uns so sehr hassen?
Nur Rowleys Auftauchen hatte einen Doppelmord verhindert, der, wäre er geglückt, niemals als Mord erkannt worden wäre. Sie und Mansur wären einfach vom Erdboden verschwunden. Und man hätte lediglich gesehen, dass der Erdhaufen ins Rutschen gekommen war.
Es blieb keine Zeit, den Schock zu verdauen. Schon war sie aufgesprungen und rannte zur Küche des Abts.
Der Bischof von St. Albans und Abt Sigward waren am Tisch im Gespräch vertieft.
»Wer war da?«, fragte sie Rowley. »Irgendwer hat versucht, uns lebendig zu begraben. Wer?«
»Hä?«
»Als Ihr herangeritten kamt. Da war jemand am Rand der Grube.« Sie tänzelte vor Aufregung von einem Fuß auf den anderen. »Jemand hat den Erdhaufen bewegt, damit er Mansur und mich unter sich begräbt.«
»Ich habe niemanden gesehen.«
»Müsst Ihr aber. Irgendwer war da, Rowley. Und hat immer weiter … Es kam immer mehr Erde nach …«
»Ich schwöre, Mistress.« Er blickte sich um. »Walt? Hast du irgendwen an der Grube gesehen, als wir ankamen?«
»Nein, Mylord.«
»Gervase?«
Der junge Mann mit dem Falken schüttelte den Kopf. »Niemanden, Mylord.«
Rowley stand von seinem Stuhl auf, war plötzlich voller Mitgefühl für sie. »Es war
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