Der König und die Totenleserin3
Ängstlichste und somit der Gefährlichste. Aber gerade weil er der Gescheiteste war, musste ihm klar sein, dass sie eine Waffe in der Hand hielt, gegen die er mit keiner von seinen etwas ausrichten konnte: Falls sie und Mansur Eustace’ Unschuld beweisen konnten, dann mussten sie am Leben bleiben, um sie auch der Obrigkeit gegenüber zu beweisen.
»Wer würde euch schon glauben?«, fragte sie.
Die Antwort lautete: niemand. Laien, die einem Gericht Beweise vorlegten? Männer, die nicht beredt waren und einen zweifelhaften Ruf genossen, ein schwierig darzulegender Fall, ohne sachkundige Zeugen, die aufgerufen werden konnten? Ein ungeduldiger Richter – und alle Assisenrichter waren ungeduldig, weil sie zu viele Fälle in zu kurzer Zeit verhandeln mussten – würde ihnen gar nicht zuhören.
Adelia wusste das. Will der Bäcker wusste das.
Sie wartete.
Er sagte, und zum ersten Mal klang sein Tonfall versöhnlich: »Und Ihr werdet uns nicht verraten … Ich mein, das mit dem Wildfleisch und so, und wie wir Euch hierher, ähm, eingeladen haben?«
»Nein«, sagte sie. Und sie meinte es ehrlich. Bislang hatten sie weder Mansur noch ihr, noch Rhys wirklich etwas zuleide getan, und mit Menschen, die so arm an Bildung und Habe waren, empfand sie Mitleid. Nach Lage der Dinge würden sie für Eustace’ Diebeszüge in die Abtei bestraft werden – aber das war nichts im Vergleich zu der Sünde, sie in Brand gesteckt zu haben.
»Schwört Ihr?«, fragte Will.
»Worauf?«
Und auch das war rührend. Es gab keine Bibel, kein Gebetsbuch, dergleichen hatten diese Männer nur in einer Kirche zu Gesicht bekommen. Doch für sie war diese geheime Quelle hier ebenso unerklärlich und magisch wie die anderen, die durch die Abtei berühmt gemacht worden waren.
»Das is nämlich Arthurs Quelle«, erklärte Alf ihr. »Eustace’ Dad hat sie gefunden, aber der ist gestorben, und außer uns kennt die keiner. Nichtsnutz hat’s uns erzählt, nicht wahr, Freunde? Einmal in der Nacht hat er Arthur daraus trinken sehen. Gekniet hat er, und seine königliche Krone hat im Licht gestrahlt.«
»Nichtsnutz hat jede Menge Sachen gesehen«, knurrte Will. »Zum Beispiel auch lila Schlangen.«
Also knieten Mansur und Adelia und Rhys nieder, hielten die hohlen Hände unter die glitzernde Wasserspirale und tranken davon, schworen auf den tapferen König Arthur, dass sie, falls sie beweisen konnten, dass Eustace kein Brandstifter gewesen war, sonst nichts verraten würden, was sie während ihres Aufenthaltes bei der Zehnschaft erfahren hatten.
Dann schwor die Zehnschaft, einer nach dem anderen, dass sie, falls der gute Doktor und seine Helferin beweisen konnten, dass Eustace kein Brandstifter gewesen war, besagtem Doktor und besagter Helferin nicht die Kehle durchschneiden würden.
»Und mir auch nicht«, beharrte Rhys.
Und dem Barden auch nicht.
»Und ihr gebt mir meine Harfe zurück?«
Und die Zehnschaft würde ihm seine verdammte Harfe zurückgeben.
Alles ganz reizend mit der Sonne, die ihnen auf den Hinterkopf schien, und dem Zirpen von Heuschrecken, das in einen geflügelten Chor einfiel …
Aber was, dachte Adelia, wenn ich nichts beweisen kann?
Die Gefangenen der Zehnschaft waren über Umwege zur Höhle gebracht worden; die Abtei war tatsächlich leicht zu Fuß zu erreichen, und es wurde erörtert, ob man die Esel hierlassen und den Hügel hinuntergehen sollte.
Der helle Klang eines Jagdhorns in der Ferne entschied die Sache. »Saukerle«, sagte Will. »Die suchen nach Euch.«
Rowley. Er hatte einen Suchtrupp zusammengestellt, der die Gegend nach ihr durchkämmte.
Plötzlich wollte sie nicht gefunden werden. Noch nicht. Sie hatte Arbeit zu erledigen, ein Rätsel zu lösen. Sie war eine Totenleserin, und ein Leichnam hatte zu ihr gesprochen.
Will sprach den Hodenkratzer an. »Wie viele, Toki? Wo?«
Die Zehnschaft wurde ganz still, damit Toki Ausschau halten und lauschen konnte. Adelia lauschte mit ihm, hörte aber nur eine Amsel und das Sprudeln der Quelle.
Langsam, aber wie verrückt kratzend, drehte Toki sich um einhundertachtzig Grad von Osten nach Westen. »Ich schätze fünfzehn Pferde«, sagte er. »Keine Hunde. Wie viele zu Fuß, weiß ich nicht. Die suchen den Wearyall ab.«
»Wie lange noch, bis sie hier sind?«
Toki zuckte die Achseln. »Kommt drauf an, wo sie als Nächstes hinwollen. Vielleicht hierher. Vielleicht zum St. Edmund, vielleicht zum Chalice.«
Das waren zusammen mit dem Wearyall die Hügel um
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