Der König von Berlin (German Edition)
Schürzenjäger. Er nannte sich selbst Gott der Ratten, und in gewisser Weise war er das auch. Ich bin mir recht sicher, dass er schon in den fünfziger Jahren ein System gefunden hatte, die Population der Ratten zu kontrollieren. Dadurch erlangte er eine ungeheure Macht in Berlin. Es gibt hier dreieinhalb Millionen Menschen, aber über zehn Millionen Ratten. Nie ist man mehr als zwei Meter von einer Ratte entfernt. Wer diese Armee der Ratten beherrscht, hat Einfluss.»
Lanner war zufrieden. Das klang nach etwas ziemlich Großem. Ein Fall, der die lange Fahrt und die viele Mühe wert war. Auch wenn ihm die Zusammenhänge noch eher vage erschienen. «Aber wie genau konnte er diesen Einfluss denn geltend machen?»
Der Stein, den Rimschow jetzt warf, sprang dreimal auf. In großer Entfernung kreuzten ein paar kleinere Segelschiffe. Im Schilf rechts am Ufer tummelten sich einige Enten, von links kamen zwei patrouillierende Schwäne näher, und direkt vor ihnen sausten verschiedenste, Lanner größtenteils unbekannte Insekten über die Wasseroberfläche. Es war erstaunlich, wie viel Leben dieser See beherbergte und was für eine unendliche, gleichförmige Ruhe er dennoch ausstrahlte.
«Die eigentliche Geschichte beginnt noch ein paar Jahre früher, in der unmittelbaren Nachkriegszeit.» Die lange Pause hatte Rimschow vermutlich gemacht, um zu entscheiden, wo er beginnen sollte. «Drei Jungs, allesamt Halbwaisen, die ihre Väter im Krieg verloren haben und deren Mütter von früh bis spät damit beschäftigt waren, ihren Familien das Überleben zu ermöglichen. Den Trümmern Berlins eine Zukunft abzutrotzen. Diese drei Jungs schmuggeln mit Lebensmitteln, suchen kleine Deals mit den Alliierten und haben große Träume. Irgendwann, so dürften sie wohl rumspinnisiert haben, sollte die ganze Stadt ihnen gehören. Die große, kaputte Stadt, die nichts weiter mehr war als ein Haufen Schutt, aber den dreien ist dieser Haufen Schutt eben die ganze Welt. Deshalb gründen sie eine Bande und nennen sich ‹MaMMa›, nach den Anfangsbuchstaben ihrer Nachnamen: Erwin Machallik, Herbert Maschmann und Friedrich Markowitz.»
«Was?»
«Ja genau, Carola ist seine Tochter. Ihr Vater war schon einundfünfzig, als sie auf die Welt kam. Doch das hätten Sie ohnehin bald selbst rausbekommen, so ein guter Kommissar, wie Sie sind.» Rimschow grinste, und als Lanner nichts erwiderte, fuhr er fort: «Tatsächlich schafften es die Jungs, sich mit Schmuggel und Kleindelikten das Startkapital für ihre drei Firmen zu beschaffen. Sie waren noch nicht einmal siebzehn, da hatte Machallik schon seine Kammerjägerfirma, Maschmann eine Maurerkolonne und Markowitz eine Art Sicherheitsfirma, die aber einige Jahre später unter recht dubiosen Umständen von der Stadt übernommen wurde, was Markowitz zu einer steilen Karriere in der Westberliner Polizei verhalf. Alle drei hatten sich schon lange vor dem Mauerbau im August 61 für den Westteil der Stadt entschieden, weil man mit den Westalliierten viel besser dealen konnte als mit den Russen und es deutlich günstigere Voraussetzungen für ein freies Unternehmertum gab. Dennoch behielten sie auch gute Verbindungen in den Ostteil, auch während der gesamten achtundzwanzig Jahre Mauer. Die Firmen liefen recht gut, doch alles bekam eine neue Qualität, als 1953/54 die Planung für ein echtes Riesenprojekt in Berlin begann: eine neue U-Bahn-Linie von Nord nach Süd, von der Spichernstraße bis hoch in den Wedding zum Leopoldplatz. 1955 sollte der erste Spatenstich für die U9 erfolgen, und natürlich wollte Maschmann hier mit seiner Baufirma dabei sein. Doch irgendwie kam er nicht in die Ausschreibungen rein. Bis er eine Idee hatte und seinen Freund Erwin Machallik um Hilfe bat. Nach zwei Rattenplagen auf Großbaustellen am Roseneck im Grunewald und bei der neuen Akademie der Künste im Hansaviertel sagte Machallik dem Bausenat, er könne der Stadt garantieren, von Rattenangriffen verschont zu bleiben, wenn die Firma seines Freundes Maschmann wesentliche Abschnitte der neuen U-Bahn baue. Der Senator wies dies zurück, daraufhin kam es beim Bau des Schimmelpfeng-Hauses am Breitscheidplatz zu einem schlimmen Rattenbefall. Ab da war die Stadt gesprächsbereit und ein neues Geschäftsmodell entworfen. Was immer nun gebaut wurde, die Firma Maschmann war dabei. Machallik erhielt von seinem Freund für jeden Auftrag Provision. Auf Maschmanns Baustellen gab es nicht nur keine Rattenplagen, sie waren auch sicher.
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