Der König von Berlin (German Edition)
Jeder kann nur eine bestimmte Anzahl von Fällen aushalten. Die einen mehr, die anderen weniger.» Er holte aus und schleuderte den Stein über den See, genau genommen wollte er ihn über den See schleudern, aber er versank sofort.
«Sie haben damals keinen Fehler gemacht. Nach allem, was ich über diesen Fall weiß, haben Sie absolut richtig gehandelt.»
«Sie wissen doch überhaupt nicht, was ich gemacht habe.»
«Sie haben Dennis Bolk etwas härter angepackt und dadurch das Leben von Effi Ziegler gerettet. Sie haben das Richtige getan.»
«Was ich getan habe, war nicht vom Gesetz gedeckt.»
«Aber es diente der Gerechtigkeit. Der Täter wurde überführt, das Opfer geschützt, sogar gerettet.»
«Soso, demnach wissen Sie und ich also um eine Gerechtigkeit, die über dem Gesetz steht. Ein Gesetz, an dem sehr viele sehr kluge Menschen sehr lange Zeit gearbeitet haben. Aber wir beide wissen intuitiv um das Wesen einer höheren, klügeren Gerechtigkeit, was?»
«Gesetze verändern sich, das sollten Sie doch am besten wissen.»
«Sie meinen, weil ich aus dem Osten bin? Vielleicht. Aber Gesetze sind mehr als nur Richtlinien, es ist herablassend, eitel und arrogant, wenn wir meinen, dem Gesetz moralisch überlegen zu sein.»
Lanner schüttelte den Kopf. «Nein, nein, nein, das kann ich so nicht gelten lassen. Sie wissen genauso gut wie ich, dass es immer wieder Ausnahmesituationen gibt, wo das Gesetz einfach nicht funktioniert. Das heißt nicht, dass es grundsätzlich falsch wäre, aber manchmal bedarf es eben einer Sonderanfertigung, damit es richtig passt.»
Rimschow grinste. «Eine Sonderanfertigung des Gesetzes, das find ich gut. Auf so was muss man erst mal kommen. Niemand hindert uns, uns über das Gesetz hinwegzusetzen, zu denken, wir seien in Besitz einer höheren Wahrheit, einer höheren Gerechtigkeit. Das können wir tun, aber wir müssen dann auch die Konsequenzen aushalten. Nicht nur der Verbrecher geht ein hohes Risiko ein, wenn er Gesetze missachtet, auch der Verbrechensbekämpfer. Wer versucht, auf seine Weise für Gerechtigkeit zu sorgen, muss damit rechnen, Schuld auf sich zu laden.»
Lanner lehnte sich beinah beleidigt zurück. «Ich verstehe, wenn Sie sauer sind, auch müde und enttäuscht. Das dürfen Sie sein. Wahrscheinlich hat man Ihnen übel mitgespielt, aber das gibt Ihnen trotzdem nicht das Recht, hier den selbstmitleidigen Moralphilosophen zu spielen. Wir halten immerhin jeden Tag da draußen unsere Knochen hin, um auf dieser Welt für ein klein wenig Gerechtigkeit zu sorgen, und das ist schwer genug, auch ohne so ein Konstrukt von ständiger Schuld.»
Rimschow nickte lächelnd, als hätte Lanner einen Test bestanden. Es vergingen einige Sekunden, ehe er antwortete. «Sie haben natürlich völlig recht. Ab und zu muss man dem Gesetz helfen. Es menschlicher machen. Das Gesetz kann oft sehr kalt sein.» Er nahm sich einen Stein aus dem Korb. «Vor langer Zeit wurde ein junger Polizist in eine Wohnung in Marzahn gerufen. Ein Mann war erschlagen worden. Es stellte sich heraus, dass er ein widerwärtiger Mensch gewesen war. Ein brutaler, tumber, alkoholkranker Mann, der beinah täglich Frau und Kinder verprügelt hat. Mal nur ein bisschen, mal so richtig verwimmst, wie der Nachbar ausgesagt hat. Er hat die drei Kinder geschlagen, schon als sie ganz klein waren. Über Jahre hinweg geschlagen. Nach kurzer Befragung gestand der älteste Sohn, vierzehn Jahre alt, zitternd und nervlich zerrüttet, dass er den Vater umgebracht hat. Er hat ihn einfach kaltblütig erschlagen. Vorher hatte der Vater den Jungen, die kleine Schwester und die Mutter gehörig verdroschen, mit Gürtel und nassem Handtuch. Dann hat er sich hingelegt, um seinen Rausch auszuschlafen. Im Schlaf erschlug ihn sein Sohn mit einem Bügeleisen. Mit unvorstellbarer Wut, in großer Verzweiflung. Er muss unzählige Male auf den Kopf eingedroschen haben. So haben es zumindest die Kriminalmediziner gesagt, und so sah der Kopf auch aus.» Rimschow wog den Stein in seiner Hand und rieb die Oberfläche. «Was sollte der junge Polizist nun tun? Einem Jungen, der fast jeden Tag seiner Kindheit verprügelt wurde, auch die nächsten Jahre seines Lebens nehmen? Ihn in den Jugendknast schicken?»
Lanner zog die Augenbraue hoch. «Sie wollen mir aber jetzt nicht sagen, dass er den Jungen hat laufenlassen.»
«Nein, natürlich nicht, der junge Mann war ein guter, idealistischer Polizist. Niemals hätte er einen Mörder einfach laufenlassen.
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