Der König von Berlin (German Edition)
Dafür respektierte er das Gesetz viel zu sehr. Aber er hat das Verbrechen umgedeutet. Alles wie Notwehr aussehen lassen. Behörden eingeschaltet, den Jungen psychologisch betreuen lassen, ihm aber ansonsten bei seiner Mutter noch eine einigermaßen normale Jugend ermöglicht.»
«Er hat das Gesetz menschlicher gemacht.»
«Genau, er wollte einen jungen Menschen vor der Kälte des Gesetzes schützen.»
«Er hat das Richtige getan.»
«Das hat er, und er wusste auch von Anfang an, dass es das Richtige war. Manchmal spürt man so etwas einfach. Alle haben mitgemacht, keiner eine andere Aussage getätigt, weil alle wussten: Es war das Richtige. Der Einzige, der seinerzeit anders dachte, war der Chef des jungen Polizisten. Der wusste von Anfang an genau, was Sache war, dass der Junge seinen Vater mit Vorsatz, mit blanker Absicht erschlagen hatte. Er hat dem jungen Polizisten ins Gesicht gesagt, dass er dessen Vorgehen für einen Fehler hielt, aber er hat ihn gewähren lassen. Nur wenn man jungen Leuten einen gewissen Spielraum lässt, können auch gute Polizisten aus ihnen werden, hat er gesagt. Sich immer nur an die Regeln halten kann jeder, dazu braucht man eigentlich keine Ausbildung.»
Lanner war sich nicht sicher, worauf Rimschow eigentlich hinauswollte. «Und Sie denken auch heute noch, man sollte jungen Polizisten einen solchen Spielraum lassen?»
«Unbedingt.»
Dann warf Rimschow den Stein, und die beiden Männer schwiegen wieder.
«Wissen Sie, was aus dem Jungen geworden ist?», fragte Lanner. «Wo er heute lebt?»
«Sie meinen, ob er mittlerweile Arzt, Anwalt, Lehrer oder so was geworden ist?»
«Ja, genau.»
«Er wohnt heute in Tegel, Justizvollzugsanstalt, also hoffe ich zumindest. Hat ein Strafregister, mit dem man den Fernsehturm tapezieren könnte. Aber das ist nicht das Schlimme.»
Als Lanner sah, wie ernst Rimschows Blick wurde, kam er sich vor wie ein Verdächtiger, der einem erfahrenen Ermittler beim Verhör in die Falle getappt ist.
«Knapp ein halbes Jahr nach der Geschichte mit seinem Vater hat er einen anderen Jungen erschlagen. Ohne Grund. Der Junge stand ihm im Weg, es kam zum Streit. Dann hat er ihn totgeschlagen. Mit einem Stein. Einfach so.»
Er hielt kurz inne, aber Lanner wusste nichts zu sagen.
«Der Chef hat damals dafür gesorgt, dass der junge Polizist zu den Eltern des Jungen fuhr, um ihnen beizubringen, dass ihr Sohn erschlagen wurde. Ohne echten Grund, ohne eigene Schuld. Von einem anderen Jungen. Was der Polizist nicht gesagt hat, war, dass er selbst diesen anderen Jungen vor nicht einmal einem halben Jahr vor Strafe geschützt hatte. Hätte er einfach nur seine Arbeit getan, hätte das Kind der Eltern noch gelebt. Aber er musste ja für echte Gerechtigkeit sorgen. Wo war nun die Gerechtigkeit für den toten Jungen? Hätte es sie gegeben, wenn der Polizist sich an die Regeln gehalten hätte? Wenn er das Gesetz nicht hätte menschlicher machen wollen? Er hat den Eltern nicht gesagt, dass der zweite Mörder ihres Sohnes gerade vor ihnen saß. Er hat es nicht gesagt, und doch konnte er an nichts anderes denken.»
Zornig warf Rimschow den nächsten Stein. Er klatschte dreimal auf, bevor er versank. Für Lanner klang jedes Aufklatschen wie ein Genickschlag.
«Am nächsten Tag bat der junge Polizist um seine Entlassung.»
«Die der Chef angenommen hat?»
«Im Gegenteil, der Chef sagte, er werde ihn auf keinen Fall entlassen, denn der junge Polizist habe etwas sehr, sehr Schwieriges, Kompliziertes über seinen Beruf gelernt und nun alle Voraussetzungen, ein guter Polizist zu werden. Er und wahrscheinlich jeder andere hätte sich natürlich gewünscht, dass der Preis dafür nicht so grausam hoch ausgefallen wäre, aber das sei nicht mehr zu ändern. Wenn der junge, gut ausgebildete Polizist nun auch noch kündige, dann mache er den Tod des Jungen damit komplett sinnlos.»
Rimschow nahm das Körbchen mit den Steinen auf den Schoß, um endlich mal einen richtig guten rauszusuchen. Erst jetzt fiel Lanner auf, wie alt der ehemalige Hauptkommissar eigentlich war. Sein äußeres Erscheinungsbild täuschte über sein wahres, sein inneres Alter hinweg. Lanner begriff, dass sich in dem Körper dieses schlanken, durchtrainierten, zähen, wohl sechzigjährigen Mannes mit kurzem grauen, aber nach wie vor vollem Haar jemand verbarg, der vermutlich schon zweihundert Jahre an Leben und Erfahrung angehäuft hatte.
«In diesem Moment wusste ich, ich würde mein Leben lang Polizist sein
Weitere Kostenlose Bücher