Der König von Berlin (German Edition)
benachrichtigen sollen.»
«Aber das mussten Sie doch. Immerhin geht es um Mord.»
«Es ist noch nicht raus, ob überhaupt ein Mord geschehen ist. Also, außer dem an Erwin, und den halten die Idioten bislang ja für ein Versehen.»
Der harsche Ton der alten Dame überraschte Toni. So hatte er Frau Matthes noch nie erlebt. Aber vielleicht war das sogar ganz gut, immerhin war auch er gekommen, um Klartext zu reden. «Das ist allerdings nicht der Grund, weshalb ich mit Ihnen sprechen wollte.»
«Nicht?» Claire Matthes biss sich auf die Lippen. Als sie sich dieses ‹Nicht› sagen hörte, wusste sie, dass es schlecht geschauspielert war. Sie hatte natürlich damit gerechnet, dass Toni Karhan heute mit ihr sprechen wollte. Er war intelligent und gewissenhaft. Deshalb versuchte sie gar nicht weiter, ihm etwas vorzumachen. «Sie haben die Unterlagen, die ich Ihnen gegeben habe, studiert?»
Toni blickte sie ernst an. «Allerdings habe ich das.»
«Und zu welchem Schluss sind Sie gekommen?»
«Die Geschichte zwischen dieser Firma und den Ratten ist sehr lang. Länger und verwickelter, als ich angenommen hatte.»
Frau Matthes lächelte. «Sie wussten doch, dass sich Erwin Machallik für den Gott der Ratten hielt. Er hat es oft und laut genug gesagt.»
«Ich habe es, wie alle, für einen Spaß, für eine Übertreibung gehalten.»
«Das ist es ja auch. Aber wie in jeder Übertreibung steckt darin ein Körnchen Wahrheit.»
«Ha! Das ist wohl eher ein Getreidesack Wahrheit, der da drinsteckt. Erwin Machallik und seine Leute haben seit den fünfziger Jahren die Ratten in Berlin ganz gezielt gefüttert, gepflegt und gezüchtet. Er hat praktisch eine Armee der Ratten geschaffen, die er nach Belieben auf die Stadt loslassen konnte!»
Claire Matthes warf ihm einen tadelnden Blick zu. «Na, jetzt übertreiben Sie aber, Toni. Sie tun ja gerade so, als sei Erwin Machallik der Pinguin aus ‹Batman›, nur mit Ratten statt Pinguinen. So war es aber gar nicht. Es war alles viel zufälliger, improvisiert – berlinerisch eben. Aus der Verzweiflung entsteht ein Provisorium, das sich dann irgendwie bewährt und deshalb beibehalten wird. Das ist Berliner Lebensart!» Sie lachte, aber Toni wirkte weder begeistert noch überzeugt. «Also gut, Toni», fuhr sie fort. «Ursprünglich wollte Erwin nur seine junge Firma retten. Was macht ein Sonnenmilchproduzent bei Regen? Gar nichts, er hofft auf besseres Wetter. Erwin Machallik hat aber eines Tages begriffen, dass er sozusagen selbst die Sonne scheinen lassen kann. Als wieder einmal die Müllabfuhr nicht funktionierte, die Ratten sich munter vermehrten und er plötzlich viele Aufträge bekam, da kam er auf den Gedanken, gezielt Ratten zu züchten. Er hatte schnell ein System raus. Wenn die Geschäfte schlecht liefen, hat er die Population explodieren lassen, mal hier, mal da – und schwups, war die Auftragslage wieder glänzend. Sie müssen unsere Firma eher wie einen landwirtschaftlichen Betrieb sehen. Wir bauen Ratten an und regulieren Angebot und Nachfrage. Ganz einfach.»
Sie hielt Toni einen Schnittchenteller hin. Der schaute Frau Matthes nachdenklich an. Diese kleine, etwas tüdelige alte Frau war nicht umsonst die wichtigste, wenn nicht einzige Vertraute eines äußerst verschlagenen Geschäftsmannes gewesen. Trotz allen Respekts, den er ihr von Anfang an entgegengebracht hatte, hatte er sie unterschätzt. Bis vor kurzem zumindest. Sein Blick fiel auf den Teller in ihrer Hand. «Ist das ein Schmetterling?»
«Ja, genau. Also, wenigstens habe ich versucht, die Schnittchen in Form eines Schmetterlings zu legen.»
«Gefällt mir.»
Claire Matthes strahlte ihn an. Toni ging zur Maschine, goss sich einen Kaffee ein und lehnte sich an den Schreibtisch. Dann sagte er mit fester, lauter Stimme: «Gut, das habe ich einigermaßen verstanden. Sogar diesen mysteriösen Umstand, dass die genauen Anweisungen zum Füttern, Vergiften und Vertreiben wohl seit Jahren schon nicht mehr von Machallik selbst kamen, sondern per Mail aus Nord- oder Südkorea. Das ist zwar alles sehr seltsam, aber ich habe es verstanden, also im Prinzip. Was ich allerdings nicht begreife: Warum herrscht jetzt diese Rattenplage? Oder besser: Warum wurde sie herbeigeführt? Ich denke, mit den Informationen, die Sie mir gestern gegeben haben, hätte man sie verhindern können.»
Claire Matthes griff nach ihrer Kaffeetasse. Sie trank nicht, sondern sah nur in die schwarze, lauwarme Brühe.
Toni wurde noch etwas
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