Der König von Berlin (German Edition)
Nacht in Folge hatte sie sich für diesen Spinner um die Ohren geschlagen. Sie hatte nicht nur seinen Fall gelöst, sondern auch noch todmüde bis in die Morgenstunden die komplizierten und skurrilen Aussagen von vier genauso müden, zugleich aufgeregten und unkonzentrierten Tätern aufgenommen. Und sich, da Lanner es nicht für nötig gehalten hatte, an sein Handy zu gehen, sehr um den feinen Herrn Kommissar gesorgt. Jetzt, wo sie ihn endlich erreichte, war er nicht nur völlig desinteressiert am Kaminski-Fall, sondern wollte ihr noch nicht mal erklären, warum er sie im Stich gelassen hatte und so lange abgetaucht war. Sie war wirklich sehr, sehr wütend auf Lanner.
Mehr noch als seine Missachtung wurmte sie, dass sie seiner schnoddrigen Bitte, sie solle doch mal in Georg Wolters’ Wohnung nach Hinweisen suchen, protestlos nachgekommen war. Sie hätte wirklich eine Pause und ein klein wenig Anerkennung brauchen können. Überdies: In die Wohnung eines Toten einzubrechen, von dem noch nicht mal sicher war, ob er tatsächlich tot war, ohne Durchsuchungsbefehl, richterliche Anordnung oder Rückendeckung des Chefs, musste sich nicht gerade als Karriereturbo erweisen. Und jetzt, wo sie vor Wolters’ Tür stand, hatte sie nicht die geringste Ahnung, was sie suchen sollte. Lanner selbst hatte ja keine Ahnung: Notizen, hatte er gesagt, eventuell habe Wolters was auf den eigenen Anrufbeantworter gesprochen, vielleicht könne sie vor Ort seinen E-Mail-Account knacken oder interessante Telefonnummern oder Adressen finden. Lanners Anweisungen waren mindestens so wirr wie der Typ selbst.
Das Schloss von Wolters’ Wohnungstür war eine Beleidigung für jeden Einbrecher mit Anspruch. Ein klassisches Sicherheitsschloss und dazu ein zweites mit Doppeldrehmechanik. Sie holte ihren Akkubohrer und den Leatherman aus dem Rucksack und schraubte beide Schlösser routiniert auf. Ihr Vater hatte ihr das beigebracht, als sie sechs oder sieben war. Er hatte ihr viele solche Dinge beigebracht. Einfache Schlösser öffnen schon mit fünf, Aufbohren zwei Jahre später. Mit acht Jahren hatte sie ihr erstes Auto kurzgeschlossen, den Umgang mit Diamantschneider und Saugpfropfen geübt, Schießen gelernt mit neun. All die Dinge eben, von denen ein alleinerziehender Polizeipräsident meint, seine Tochter sollte sie können. Auch den kleinen Akkubohrer für die Handtasche hatte er ihr geschenkt. Da war sie zehn gewesen. Es gab viele Aufsätze, unter anderem diente er als Ventilator und Handmixer. Manchmal fragte sie sich, wie ihre Kindheit wohl verlaufen wäre, wenn ihre Mutter nicht so kurz nach ihrer Geburt verschwunden wäre. Aber sie wusste natürlich, dass solche Überlegungen müßig waren.
Nachdem sich Carola Markowitz vergewissert hatte, dass niemand in der Wohnung war, und den Ersatzschlüssel am Brett neben der Tür erspäht hatte, baute sie die Schlösser wieder ein. Niemand, kein Experte und schon gar nicht Georg Wolters, würde den Ausbau bemerken.
Die Wohnung war so unaufgeräumt wie erwartet. Es roch nach Bratfett, abgestandenem Kaffee, Duschgel und Bierflaschenhälsen mit schlechtem Atem. Markowitz kannte diesen Geruch, bei ihr duftete es oft ähnlich. Georg Wolters’ Wohnung wirkte zu bewohnt, zu privat, als dass sie einfach zu suchen hätte beginnen wollen. Es wäre ihr schäbig vorgekommen. Ohne etwas zu verändern oder die Dinge beim Existieren zu stören, schaute sie sich erst mal nur um. Allerdings signalisierte ein blassgelber Leuchtpunkt am iMac, dass der Computer angeschaltet war. Nun gut, eine solche Einladung würde sie schon annehmen dürfen. Sie tippte auf die Tastatur, der Bildschirm strahlte auf, und es öffnete sich ein Feld, mit dem sie nicht gerechnet hatte. «Hallo, Georg!», stand da. «Bist du dir wirklich sicher, dass du nichts Wichtigeres, Besseres oder Schöneres zu tun hast als das, was du jetzt tun willst?» Markowitz drückte eine Taste, ein neues Pop-up fragte: «Bist du dir wirklich ganz, ganz sicher?» Sie tippte noch mal, ein weiteres Fenster wollte wissen: «Warum belügst du dich selbst?» Ein letztes Klicken, dann war der Weg frei.
Sie zögerte, hatte Skrupel, den Mailordner zu öffnen. Dann aber fuhr der Cursor schon über das Mailsymbol, sie atmete vor dem Klick durch und – es klingelte. An der Tür. Dann klopfte es. Klingelte wieder. Erneutes Klopfen. Jemand rief. Sturmklingeln. Die Höflichkeitspausen zwischen den Eskalationsstufen eines Klingelterrors wurden offensichtlich
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