Der König von Berlin (German Edition)
nicht ernst meinen.»
Claire Matthes setzte betont sachlich nach. «Ihr Vater hat dies alles genau so geplant. Für den Fall der Fälle.»
«Mein Vater? Janek Karhan?»
Die Sekretärin wischte mit der Hand durch die Luft. «Natürlich nicht, die Karhans waren nur eine Pflegefamilie. Sie wissen doch längst, wer Ihr wirklicher Vater war. Haben Sie sich früher nie gewundert, warum Erwin Sie so häufig mit ‹mein Sohn› angesprochen hat?»
«Ich dachte, das sei eine Redewendung.»
«In Ihrem Fall war es mehr als das. Erwin Machallik hatte viele Affären. Manche durften auf keinen Fall bekannt werden. So wie die mit Ihrer Mutter.»
«Ivonna Karhan ist auch nicht meine Mutter?»
«Doch, sicher. Aber nicht die leibliche.»
Tonis Tonfall ging jetzt ins Ärgerliche über. «Das meinte ich natürlich. Natürlich ist sie meine Mutter, und das wird sie auch immer bleiben. Aber wer ist meine leibliche Mutter?»
Die Pause, die die alte Sekretärin nun machte, kam beiden wie eine Ewigkeit vor. Auf einmal fürchtete Toni die Antwort, umso mehr, je länger die Pause dauerte.
«Das weiß man nicht», sagte Frau Matthes, und Toni nickte langsam. Er spürte, dass jedes Nachhaken sinnlos war. Wieder ergriff die Sekretärin das Wort: «Die Karhans waren eine sehr gute, sehr liebevolle Pflegefamilie. Das wusste Ihr Vater.»
Toni nickte immer noch. «Ich hatte eine wunderbare Kindheit.»
Frau Matthes lächelte. «Sie müssen wissen, Ihr Vater hatte gute Verbindungen nach Polen. Er war immer informiert, wie es Ihnen ging, was Sie machten. Wir ließen den Karhans Geld und manch anderes zukommen, was zu der Zeit in Polen nicht leicht zu beschaffen war. Als Sie alt genug waren, holte Ihr Vater Sie nach Berlin. Eigentlich sollten Sie hier nur eine hervorragende Ausbildung erhalten. Aber plötzlich sah er mehr in Ihnen. ‹Die Macht ist stark in ihm› , so hat er über Sie geredet. Damit meinte er die Macht, mit den Ratten zu kommunizieren. Ihr Vater glaubte an solche Dinge, er war überzeugt, Sie hätten diesen siebten Sinn für die Ratten, der Helmut und Max so völlig abgeht. Er war besessen von dem Gedanken, Sie zu seinem Nachfolger zu machen. Eigentlich hatte er das ganz harmonisch geplant, es gibt sogar ein Testament, in dem er seine Vaterschaft anerkennt und Ihnen alles vermacht. Ich weiß, wo es aufbewahrt ist: in einem Geheimfach im Bunker. Ein Geheimfach, das die beiden Brüder in den Wochen, die sie drinhocken, noch nicht entdeckt haben. Weil sie eben gar kein Interesse haben, irgendetwas zu entdecken. Durch Erwins plötzlichen Tod ist allerdings alles komplizierter geworden. Alle mussten improvisieren. Ich auch.»
Der frischgebackene Machallik-Sohn lächelte gequält. «Dieses Testament liegt jetzt ja wohl für alle Zeiten verschlossen im Grab des Pharaos, gemeinsam mit den Brüdern und Georg.»
«Ach», Frau Matthes wischte noch mal mit der Hand durch die Luft, «irgendwann werden die Trottel den Raum schon aufkriegen.»
Toni wollte gelassen ausatmen, aber es geriet ihm zu einem Grunzen. «Wäre gut, wenn sie das bald schaffen würden. Nicht wegen des Testaments, das läuft mir nicht weg. Aber ich brauche den Plan, unbedingt.»
Claire Matthes horchte auf. «Welchen Plan?»
«Der Plan mit den Rattenwegen und seinen neuralgischen Punkten. Es muss so etwas wie ein Ventil geben, wo man Druck, sprich Ratten, aus der Stadt ablassen kann. Das verraten die Unterlagen eindeutig. Aber wo dieses Ventil ist, kann ich nicht sagen.»
«Und Sie denken, der Plan mit diesem Ventil befindet sich im Chefbüro?»
«Ich weiß es. Sie haben mir erzählt, der alte Ma-, also, mein Vater, hätte immer, wenn er verzweifelt war, das Bild mit der Anatomie einer Ratte angestarrt. Dieses große, in Öl gemalte Rattenskelett. Und dann plötzlich sei ihm die rettende Idee gekommen. Dabei ist das Bild im Büro völlig falsch: Keine Rattenart der Welt hat derart viele Knochen und Gelenke, schon gar nicht unsere gemeine Berliner Wanderratte. Als ich ein wenig nachdachte, mir das Bild, das Rattenskelett im Chefbüro, ins Gedächtnis rief, wurde mir klar, dass es in seinen Umrissen der Stadt Berlin ähnelt. Glaube ich zumindest. Verstehen Sie?»
Die alte Sekretärin sah ihn stolz an und fühlte eine Wärme vom Bauch in ihre Brust steigen und sich wohlig ausbreiten. Der Alte hatte recht gehabt. Die Macht war stark in ihm.
C arola Markowitz wusste nicht, über wen sie sich mehr ärgern sollte – über sich selbst oder über Lanner. Die dritte
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