Der König von Havanna
widerlich.«
»Widerlich?«
»Widerlich.«
Sie küssten sich auf den Mund. Es gefiel Rey. Und auch wieder nicht. Und eigentlich doch. Er schnappte seine Zigaretten und ging.
Ohne Eile ging Rey die Reina runter, dann die Carlos Tercero und die Zapata. Als er das Friedhofsportal in Colón erreichte, hatte er nur noch zwei Schachteln. Einen Moment lang blieb er stehen. Mehrere Beerdigungszüge kamen an ihm vorbei. Mit wenigen Trauernden. Jeden Tag treten weniger Leute ans Sterbebett. Das ist normal, denn das Leben ist interessanter als der Tod. Als wäre nicht alles schon beschissen genug, um jetzt auch noch Tränen zu vergießen. Nie hatte Rey bislang einen Friedhof betreten. Er hatte keine Ahnung, was sich darinnen abspielte. Er bot allen Leuten seine Schachteln Zigaretten an und verkaufte sie. Als er gerade gehen wollte, kam ein potthässlicher, kleiner, etwas verwachsener Mann auf ihn zu, dem man die Wirbelsäule zerschlagen zu haben schien. Mit aufgebrachtem Gesichtsausdruck rief er ihm entgegen: »Hey, junger Mann, hast du noch Zigaretten?«
»Nein. Alle verkauft.«
»Verdammt.«
»Arbeiten Sie hier?«
»Ja.«
»Ich kann welche holen und Ihnen bringen.«
»Geh nach La Pelota. Dort arbeite ich später … halt Ausschau nach der Menschentraube am Grab, da findest du mich.«
Ein paar Minuten darauf kam Rey mit den Zigaretten zurück. Der Alte und ein anderer ließen einen Sarg auf den Boden eines Grabes hinab. Der Alte wirkte noch verbitterter. Fünf Leute sahen dem Vorgang zu. Ohne Tränen. Sobald die Kiste den Boden berührt hatte, gingen sie. Sie hatten es eilig. Einer stopfte dem Alten einen Geldschein in die Hand, bedankte sich und hastete dann den anderen hinterher. Ganz in der Nähe, etwa fünfzig Meter entfernt in der engen Straße, wartete schon ein anderer Toter. Auch er war von vier, fünf Trauernden umgeben. Die Totengräber gingen rasch und geschickt zu Werke. Sie versenkten drei Särge in jede Grabstätte und schütteten eine dicke Schicht Zement darauf. Dann öffneten sie die nächste Gruft. Drei Tote ins Loch, Zementschicht drauf, die nächste. Drei weitere unter die Erde. Und so den ganzen Tag. Manchmal hatten sie zwischen zwei Begräbnissen eine Verschnaufpause von zehn, fünfzehn Minuten. Und sie waren nur zu zweit. Das alles beobachtete Rey, nachdem er die Zigaretten geliefert und kassiert hatte, inklusive eines kleinen Trinkgelds.
»Willst du hier arbeiten?«, fragte ihn der Alte.
»Nein, nein.«
»Warum nicht?«
Er antwortete nicht, machte nur eine Bewegung, die besagte: »Ist doch egal.«
»Willst du nun oder nicht?«
»Na, ja … wie viel verdient man denn?«
»Je nach Vereinbarung und Trinkgeldern. Zehn bis zwanzig Pesos am Tag kannst du verdienen.«
»In Ordnung.«
»Setz dir die Mütze da auf, es kommen schon die Nächsten. Gegen Mittag lässt es etwas nach. Am Nachmittag geht’s dann wieder richtig los, etwa bis sechs.« Den ganzen Tag verbrachte Rey damit, Tote ins Loch zu versenken. Als es mittags etwas ruhiger wurde, aßen sie einen Happen und rauchten eine Zigarette. Keiner der drei sprach ein Wort. Jeder hing seinen Gedanken nach. Nur Rey überkam es zu sagen: »Man sollte sie verbrennen. Insgesamt. So viele Tote … Ich würde sie verbrennen.«
»In anderen Ländern wird auf Wunsch eingeäschert«, entgegnete ihm der Alte.
»Ach ja? Woher wissen Sie das?«
»Neunundzwanzig Jahre hier. Von Montag bis Sonntag. Ohne einen Tag auszuruhen.«
»Scheiße! Ohne einen Tag Pause?«
»Keinen einzigen.«
»Na, also da müssen Sie die Toten mögen … Dann geht es Ihnen ja gut.«
»Nein, nein. Mir geht es nicht gut. Am Tag meiner Hochzeit war ich glücklich. Aber zwei Tage später haute meine Frau ab. Das war’s dann. In meinem Leben hat’s keinen anderen glücklichen Tag gegeben.«
Der andere Bursche hob nicht einmal den Blick vom Boden. Kurz darauf beerdigten sie weiter Tote. Um sechs waren keine Toten mehr da.
»Ihr könnt jetzt gehen.«
»Aber die Sargdeckel müssen doch noch mit Zement und Sand versiegelt werden. Und es sind so viele …«, erwiderte Rey.
»Ich kümmere mich darum. Los jetzt. Morgen um acht wieder hier«, sagte der Alte und reichte jedem von ihnen einen Zwanzig-Peso-Schein.
Sie gingen zusammen fort. Beide hatten dieselbe Idee: »Ich lade dich auf ein Gläschen Rum ein.«
»Gehen wir nach La Pelota.«
Um diese Zeit trieb sich dort noch anderes Gesocks rum. Bald kamen zwei junge Frauchen an, beide gleichermaßen
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