Der König von Havanna
jeder von ihnen wusste, dass der andere bloß die Zähne zeigte. Eines Morgens unternahm Rey einen Spaziergang in sein altes Stadtviertel San Lázaro. Was mochte wohl aus Fredesbinda geworden sein? Es war eine ganze Zeit her, seit er von dort abgehauen war. Alles war wie sonst. Fredesbinda öffnete ihm die Tür. Sie hatte ein kummervolles Gesicht.
»Rey! Ich hatte schon geglaubt, du wärst tot. Du bist gegangen, ohne dich zu verabschieden.«
Rey ging quer über die Dachterrasse zu ihrem Zimmer und erinnerte sich nicht einmal, dass sich seine Kindheit auf der Dachterrasse nebenan abgespielt hatte. Er sah nicht einmal mehr hinüber. Vergessen und vorbei. In Fredesbindas Zimmer saß ihre Tochter, die hübsche kleine Stricherin, vor der sein Bruder und er sich einen runtergeholt hatten. Sie war makellos, wunderschön und gut gekleidet inmitten all diesen Schmutzes und ewigem Gestank nach Hühnerscheiße. Sie trug eine dunkle Brille und hörte Musik. Als er eintrat, blickte sie nicht zu ihm auf.
»Tatiana, begrüß diesen jungen Mann. Es ist Reynaldito von nebenan. Weißt du nicht mehr?« Das Mädchen streckte eine Hand aus und wartete, dass man sie drückte. Mit einem sanften Lächeln schüttelte ihr Rey die Hand.
»Guten Tag.«
»Tatiana, erinnerst du dich nicht an ihn? An den Unfall an dem Tag … Die Polizei hatte ihn mitgenommen … Erinnerst du dich nicht?«
»Doch, natürlich.«
Tatiana stierte weiter ins Leere. Rey begriff, dass etwas geschehen war. Auf seine fragende Geste gab Fredesbinda ihm zu verstehen, dass Tatiana nicht sehen konnte. Sie gingen wieder hinaus auf die Dachterrasse, um miteinander zu sprechen, ohne dass Tatiana sie hören konnte. Fredesbinda brach in Tränen aus.
»Ach, Rey, bei deiner Mutter selig, das ist die Strafe Gottes.«
»Was ist ihr geschehen?«
»Sie kam blind zurück, mit leeren Augen.« Erstickt schluchzte Fredesbinda.
»Beruhige dich, Frede. Wie ist das passiert?«
»Aber das werden sie mir bezahlen … ich werde ihnen jemanden auf den Hals hetzen, und wenn es mich das Leben kostet … meine Tochter so ins Unglück zu stürzen …«
»Beruhige dich, Frede, ich verstehe kein Wort.«
»Ach, Rey, bei deiner Mutter selig …« Und noch mehr Weinen und Tränen und unterdrückte Schluchzer, damit Tatiana sie nicht hören konnte. Rey schwieg. Er würde, zum Teufel noch mal, gleich gehen. Wenn sie ihm nicht sagen wollte, was geschehen war, würde er eben gehen. Als er Anstalten machte aufzubrechen, packte ihn Fredesbinda am Arm.
»Bleib hier, Rey … Ach, lass mich mein Herz ausschütten … Ich weiß nicht mehr ein noch aus.«
Mit verschränkten Armen wartete Rey ab. Nach erneutem Schluchzen und noch mehr Tränen fing sich Fredesbinda etwas.
»Man hat sie ein Papier unterschreiben lassen und ihr die Augen herausgerissen.«
»Hat sie ihre Augen verkauft?«
»Nein, das Papier besagte, sie würde sie der Tochter dieses Mannes spenden. Das Papier war in einer anderen Sprache abgefasst, und sie wusste nicht einmal, was sie da unterschrieb … ach, was für ein Unglück. Dabei wirkte er so anständig, so gebildet und fein.«
»Wo ist das Papier? Geht damit zur Polizei.«
»Sie hat es da, aber man versteht nichts. Es ist in einer anderen Sprache.«
»Aber … ich finde, sie wirkt so ruhig.«
»Sie war halb verrückt, als sie kam. Man hat sie in ein Flugzeug gesetzt und heimgeschickt. Ach, Rey, dieser Kerl muss bezahlen … Er ist ein Mann mit Geld, warum hat er das bloß getan? Warum hat er mein Kindchen betrogen? Jetzt ist es blind.«
»Nimm eine Tablette, Frede, schon deine Nerven.«
»Ich habe ein paar Diazepán aufgetrieben, aber die gebe ich lieber ihr, sie ist halb wahnsinnig. Ich kann nicht mehr schlafen, Rey. Seit sie angefangen hat … seit sie mit diesen Ausländern ausgeht … Ich habe ihr gesagt, sie solle vorsichtig sein, aber sie hat nicht auf mich gehört. Ach, die Jugend, Herrgott im Himmel!«
Fredesbinda weinte aus tiefster Verzweiflung. Eine Minute lang beruhigte sie sich, dann fing sie wieder an. Schweigend ging Rey hinüber zu Tatiana und sah sie genau an. Sie war unverändert bildschön. Hätte er Geld und ein Haus, würde er sich mit ihr zusammentun und sie sogar heiraten, mit Papieren und allem. Wenn er diesen Scheißkerl, der ihr das angetan hatte, in die Finger bekäme, würde er ihm die Augen mit der Messerspitze herausschneiden. Er ging zurück zu Fredesbinda.
»Es stimmt, Frede, die Leute mit Geld sind größere Arschlöcher als
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